Montag, 28. November 2016

Die totale Kontrolle (2)



Auch Pusztaranger wird inzwischen die eine oder andere Info zugetragen. So haben wir davon erfahren, dass vor 3 Wochen das Ministerium für Humanressourcen (zu verstehen als: Ministerium für eh alles), mit seinem Minister Zoltán Balog, der letzte Woche der Welt mitgeteilt hat, dass in Ungarn kein funktionaler Analphabetismus existiere (scheinbar kannte er den Ausdruck nicht), die Presseleute aller Kulturinstitutionen (Theater, Museen) zum Rapport ins Ministerium zitierte, wo diesen mitgeteilt wurde, dass sich niemand ohne Genehmigung vom Ministerium mehr der Presse gegenüber äußern dürfe. Auf den Einwurf, dass es eher schwierig sein würde, Menschen wie der mehrfach ausgezeichneten Schauspiellegende Mari Tőröcsik zu verbieten, sich gegenüber der Presse zu äußern, wurde gesagt, dass nicht vom Ministerium abgesegnete Stellungnahmen absolut nicht erlaubt seien und sich die Presseleute halt etwas überlegen müssten, damit sich niemand aus ihrer Institution eigenmächtig äußere.

Montag, 14. November 2016

Niemals Gewalt!

Dankesrede van Astrid Lindgren anläßlich ihrer Auszeichnung mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1978.



Astrid Lindgren
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Dankesrede
»Niemals Gewalt«

Liebe Freunde!
Das erste, was ich zu tun habe, ist Ihnen zu
danken, und das tue ich von ganzem Herzen. Der
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels strahlt
einen solchen Glanz aus und ist eine so hohe
Auszeichnung, daß es einen fast überwältigt,
empfängt man ihn. Und jetzt stehe ich hier, wo
schon so viele kluge Männer und Frauen ihre
Gedanken und ihre Hoffnungen für die Zukunft
der Menschheit und den von uns allen ersehnten
ewigen Frieden ausgesprochen haben - was
könnte ich wohl sagen, das nicht schon andere
vor mir besser gesagt haben?

Über den Frieden sprechen heißt ja über et-
was sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden
gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie
gegeben, es sei denn als Ziel, das wir offenbar
nicht zu erreichen vermögen. Solange der
Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Ge-
walt und dem Krieg verschrieben, und der uns
vergönnte, zerbrechliche Friede ist ständig be-
droht. Gerade heute lebt die ganze Welt in der
Furcht vor einem neuen Krieg, der uns alle ver-
nichten wird. Angesichts dieser Bedrohung set-
zen sich mehr Menschen denn je zuvor für Frie-
den und Abrüstung ein - das ist wahr, das könnte
eine Hoffnung sein. Doch Hoffnung hegen fällt
so schwer.
Die Politiker versammeln sich in
großer Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen,
und sie alle sprechen so eindringlich für Ab-
rüstung, aber nur für die Abrüstung, die die an-
deren vornehmen sollen. Dein Land soll abrü-
sten, nicht meines! Keiner will den Anfang ma-
chen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sich
fürchtet und so geringes Vertrauen in den Frie-
denswillen des anderen setzt. Und während die
eine Abrüstungskonferenz die andere ablöst,
findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Ge-
schichte der Menschheit statt. Kein Wunder, daß
wir alle Angst haben, gleichgültig, ob wir einer
Großmacht angehören oder in einem kleinen
neutralen Land leben.
Wir alle wissen, daß ein neuer Weltkrieg keinen
von uns verschonen wird, und ob ich unter einem neutralen oder
nicht-neutralen Trümmerhaufen begraben liege,
das dürfte kaum einen Unterschied machen.
Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden
ständiger Kriege nicht fragen, ob der Mensch
nicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaft
ist? Und sind wir unserer Aggressionen wegen
zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen
ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns
zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir
nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten?
Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art
Mensch zu werden? Wie aber sollte das gesche-
hen, und wo sollte man anfangen?

Ich glaube, wir müssen von Grund auf be-
ginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde,
haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchauto-
rin verliehen, und da werden Sie kaum weite
politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lö-
sung internationaler Probleme erwarten. Ich
möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über
meine Sorge um sie und meine Hoffnungen für
sie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die
Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern
dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es,
die über Krieg und Frieden bestimmen werden
und darüber, in was für einer Gesellschaft sie
leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur stän-
dig weiterwächst, oder in einer, wo die Men-
schen in Frieden und Eintracht miteinander le-
ben. Gibt es auch nur die geringste Hoffnung
darauf, daß die heutigen Kinder dereinst eine
friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es
vermocht haben? Und warum ist uns dies trotz
allen guten Willens so schlecht gelungen?
Ich erinnere mich noch sehr gut daran,
welch ein Schock es für mich gewesen ist, als
mir eines Tages - ich war damals noch sehr jung
- klar wurde, daß die Männer, die die Geschicke
der Völker und der Welt lenkten, keine höheren
Wesen mit übernatürlichen Gaben und göttlicher
Weisheit waren. Daß sie Menschen waren mit
den gleichen menschlichen Schwächen wie ich.
Aber sie hatten die Macht und konnten jeden
Augenblick schicksalsschwere Entscheidungen
fällen, je nach den Antrieben und Kräften, von
denen sie beherrscht wurden. So konnte es, traf
es sich besonders unglücklich, zum Krieg kom-
men, nur weil ein einziger Mensch von Macht-
gier oder Rachsucht besessen war, von Eitelkeit
oder Gewinnsucht, oder aber - und das scheint
das häufigste zu sein - von dem blinden Glauben
an die Gewalt als das wirksamste Hilfsmittel in
allen Situationen. Entsprechend konnte ein ein-
ziger guter und besonnener Mensch hier und da
Katastrophen verhindern, eben weil er gut und
besonnen war und auf Gewalt verzichtete.
Daraus konnte ich nur das eine folgern: Es
sind immer auch einzelne Menschen, die die
Geschicke der Welt bestimmen. Warum aber
waren denn nicht alle gut und besonnen? Warum
gibt es so viele, die nur Gewalt wollten und nach
Macht strebten? Waren einige von Natur aus
böse? Das konnte ich damals nicht glauben, und
ich glaube es auch heute nicht. Die Intelligenz,
die Gaben des Verstandes, mögen zum größten
Teil angeboren sein, aber in keinem neugebore-
nen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem
zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein
Kind zu einem warmherzigen, offenen und ver-
trauensvollen Menschen mit Sinn für das Ge-
meinwohl heranwächst oder aber zu einem ge-
fühlskalten, destruktiven, egoistischen Men-
schen, das entscheiden die, denen das Kind in
dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie
ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht
tun. Ȇberall lernt man nur von dem, den man
liebt«, hat Goethe einmal gesagt, und dann muß
es wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinen
Eltern liebevoll behandelt wird und das seine
Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles
Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese
Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist
auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu
denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.
Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages
doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es
für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung
durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch
Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politi-
ker werden zu Charakteren geformt, noch bevor
sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das ist
erschreckend, aber es ist wahr.

Blicken wir nun einmal zurück auf die Me-
thoden der Kindererziehung früherer Zeiten.
Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den
Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer
oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele
Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt
»von denen, die man liebt«, nämlich von den
eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann
der nächsten Generation weitergegeben! Und so
ging es fort, »Wer die Rute schont, verdirbt den
Knaben«, heißt es schon im Alten Testament,
und daran haben durch die Jahrhunderte viele
Väter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig die
Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie
aber war denn nun die Kindheit aller dieser
wirklich »verdorbenen Knaben«, von denen es
zur Zeit so viele auf der Welt gibt, dieser Dikta-
toren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Men-
schenschinder? Dem sollte man einmal nachge-
hen. Ich bin überzeugt davon, daß wir bei den
meisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzie-
her stoßen würden, der mit einer Rute hinter
ihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder im
Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen
bestand.
In den vielen von Haß geprägten Kindheits-
schilderungen der Literatur wimmelt es von
solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder
durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und
Unterwerfung gezwungen und dadurch für das
Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum
Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern
gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kin-
der auch schon von jeher mit Liebe und ohne
Gewalt erzogen. Aber wohl erst in unserem
Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre
Kinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnen
das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in
einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung
und ohne Gewalt frei zu entwickeln.

Muß man da nicht verzweifeln, wenn jetzt
plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr
zu dem alten autoritären System fordern? Denn
genau das geschieht zur Zeit mancherorts in der
Welt. Man ruft jetzt wieder nach »härterer
Zucht«, nach »strafferen Zügeln« und glaubt
dadurch alle jugendlichen Unarten unterbinden
zu können, die angeblich auf zuviel Freiheit und
zuwenig Strenge in der Erziehung beruhen. Das
aber hieße den Teufel mit dem Beelzebub aus-
treiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr
Gewalt und zu einer tieferen und gefährlichen
Kluft zwischen den Generationen. Möglicher-
weise konnte diese erwünschte »härtere Zucht«
eine äußerliche Wirkung erzielen, die die Be-
fürworter dann als Besserung deuten würden.
Freilich nur so lange, bis auch sie allmählich zu
der Erkenntnis gezwungen werden, daß Gewalt
immer wieder nur Gewalt erzeugt - so wie es
von jeher gewesen ist.

Nun mögen sich viele Eltern beunruhigt
durch diese neuen Signale fragen, ob sie es bis-
her falschgemacht haben. Ob eine freie Erzie-
hung, in der die Erwachsenen es nicht für selbst-
verständlich halten, daß sie das Recht haben zu
befehlen und die Kinder die Pflicht haben, sich
zu fügen, womöglich nicht doch falsch oder
gefährlich sei.
Freie und un-autoritäre Erziehung bedeutet
nicht, daß man die Kinder sich selber überläßt,
daß sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es
bedeutet nicht, daß sie ohne Normen aufwachsen
sollen, was sie selber übrigens gar nicht wün-
schen. Verhaltensnormen brauchen wir alle,
Kinder und Erwachsene, und durch das
Beispiel ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch
irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiß
sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben,
aber ganz gewiß sollen auch Eltern Achtung vor
ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre
natürliche Überlegenheit mißbrauchen. Liebe-
volle Achtung voreinander, das möchte man
allen Eltern und allen Kindern wünschen.
Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach
härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen,
möchte ich das erzählen, was mir einmal eine
alte Dame berichtet hat. Sie war eine junge
Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bi-
belspruch glaubte, dieses »Wer die Rute schont,
verdirbt den Knaben«. Im Grunde ihres Herzens
glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Ta-
ges hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er
ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient
hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm
auf, in den Garten zu gehen und selber nach
einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen
sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange
fort. Schließlich kam er weinend zurück und
sagte: »Ich habe keinen Stock finden können,
aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja
nach mir werfen.« Da aber fing auch die Mutter
an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit
den Augen des Kindes. Das Kind mußte gedacht
haben, »meine Mutter will mir wirklich weh tun,
und das kann sie ja auch mit einem Stein.«
Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme,
und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann
legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche,
und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an
das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde
selber gegeben hatte: »NIEMALS GEWALT!«
Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohne
Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel
erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Men-
schengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt?
Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein
Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, daß es eine
Utopie ist. Und ganz gewiß gibt es in unserer
armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das
gleichfalls geändert werden muß, soll es Frieden
geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es
- selbst ohne Krieg - so unfaßbar viel Grausam-
keit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und
das bleibt den Kindern keineswegs verborgen.
Sie sehen und hören und lesen es täglich, und
schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein na-
türlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht
wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen,
daß es eine andere Art zu leben gibt? Vielleicht
wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein
auf das Küchenbord legten als Mahnung für uns
und für die Kinder: NIEMALS GEWALT!
Es könnte trotz allem mit der Zeit ein win-
ziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt.