Freitag, 4. Februar 2011

Keine Schneekette auf der Scheibtruhe

Episoden aus dem Gettotagebuch

Mit andauernden Geldstrafen werden die Zigeuner* in der Hétes-Siedlung in Ózd/Nordungarn in Schach gehalten. Gibt es keinen Grund für eine Geldbuße, wird einer erfunden.

Ónody-Molnár Dóra| Népszabadság| 2009. december 18.

In der Hétes-Siedlung in Ózd leben 60-70 Familien, die meisten von ihnen in aussichtsloser Armut. Die Industriebetriebe in Nordungarn waren nach der Wende sofort in sich zusammengefallen, nach dem Schließen der Fabriken blieben in dieser Region tausende Familien ohne geregeltes Einkommen, sie waren gezwungen mit Sozialhilfe und Kindergeld ihr Dasein zu fristen. Manchmal gibt es Arbeit von der Gemeinde, sechs Stunden am Tag, doch nur für einige Wochen. Die Menschen aus der Hétes warten gespannt auf solche Arbeitsmöglichkeiten, denn der Lohn ist immer noch mehr als die Sozialhilfe: Wenn auch nur für ein paar Tage, so lindert der Lohn die Armut ein wenig.

Die Menschen hier sind nicht nur im Elend verbunden. Fast jede Familie hat schon Geldbußen wegen verschiedener Vergehen bezahlt. Die Strafen bewegen sich im Zehntausend-Forint-Bereich. Sobald die Zigeuner ihre Siedlung verlassen, erscheint fast immer wie aus dem Nichts ein Polizist. Und er amtshandelt. Zwanzig, dreißig, manchmal fünfzigtausend Forint (ca. 180 €) Strafe verhängt er. Die kann natürlich niemand bezahlen. Da bleibt dann die gemeinnützige Arbeit, dafür braucht es aber einen Kooperationspartner, z.B. die Gemeinde.
An Orten, an denen solche Geldbußen wegen „Vergehen“ verhängt werden, gibt es keine Kooperation und schon gar keine friedliche. Deshalb verzinsen sich die Strafen, was das Elend noch weiter vermehrt. Oder man muss einsitzen: Hier kann man Geldbußen durch Gefängnistage abstottern. Ein Tag ist tausend Forint (3,5 €) wert, eine durchschnittliche Verwaltungsstrafe (30 000 HUF = 110 €) kann also mit einem Monat im „Häfen“ abgegolten werden. Das Strafgesetzbuch verfügt, dass jene Personen mit Freiheitsentzug bestraft werden, die gesellschaftsgefährdende Handlungen tätigen. Ein Tag Gefängnis kostet dem Steuerzahler rund 8.000 Forint. Gemeinsam mit dem Juristen der TASZ (Gesellschaft für Freiheitsrechte) haben wir einige der „Taten“ gesammelt, für die in der Hétes regelmäßig gestraft wird.
B. E. ist dreißig Jahre alt, sie ist Alleinerzieherin von drei minderjährigen Kindern. Das größere schwänzt regelmäßig die Schule. Jene Eltern, deren Kinder mehr als die gesetzlich geregelte Anzahl von Stunden unentschuldigt dem Unterricht fernbleiben „erfüllen ihre im Unterrichtsgesetz festgelegten Pflichten nicht und sind daher mit einer Geldstrafe zu belangen“.
Im Falle B. E. kommt als erschwerender Umstand hinzu, dass sie wegen unentschuldigten Stunden schon bestraft worden ist. „Angaben, die als mildernde Umstände verstanden werden können, stehen der Behörde nicht zur Verfügung, nachdem das ordnungsgemäß zugestellte Erhebungsblatt über die Familien- und finanziellen Verhältnisse nicht retourniert worden war", steht im Bescheid, der ohne Rechtsmittel sofort rechtskräftig ist.
In der Hétes-Siedlung sind die Einkommensverhältnisse der Bewohner auch ohne Erhebungsblatt schnell zu erkennen. B. E. wurde – wegen unentschuldigten Fehlens ihres Sohnes – zu 22.000 HUF (ca. 80 €) Geldstrafe verurteilt. Die Frau hatte keine Ahnung, welche Papiere sie hätte ausfüllen sollen, um die Strafe verringern zu können. Von der Möglichkeit eines Einspruchs wusste sie nichts. Und es gab auch niemanden, der sie über ihre Rechte informierte: Dass jemand, der drei minderjährige Kinder alleine erzieht, die Verwaltungsstrafe nicht absitzen kann. Deshalb traten die Polizisten in einer lauen Sommernacht B. E. die Türe ein und brachten sie ins Gefängnis. Sie saß zwei Tage lang statt 22, weil der Wucherer aus dem Dorf den Rest der Strafe bezahlte.
„Warum geht denn der Bub nicht in die Schule?“, fragen wir die Frau.
„Er arbeitet als Tagelöhner, ich red mir umsonst die Lippen wund.“
Sie geht und kommt mit Papieren zurück. Es stellt sich heraus, dass ihr 16-jähriger Sohn in die dritte Klasse Grundschule geht.
„Hier in die Fehér geht er“, dabei deutet sie in Richtung Hügel. „Fehér“ nennen sie in der Hétes-Siedlung die Zigeunerschule. Alle Kinder von hier gehen dorthin.
B. Gy. ist ein Mann mittleren Alters. Er ging in Ózd, die Gyár-Straße Richtung Hétes entlang und zog ein kleines Wägelchen nach. Offiziell hatte er „einen Handwagen zur Beförderung von Alteisen in Anspruch genommen“, als er einer „polizeilichen Maßnahme unterzogen“ wurde. „Im Rahmen der Amtshandlung wurde festgestellt, dass an der rechten Vorderseite des Handwagens kein Schild mit dem Namen und der Adresse des Fahrzeughalters angebracht war.“ B. Gy. wurde unter Berufung auf die StVO wegen nicht entsprechender Ausrüstung des Fahrzeugs mit einer Strafe von 5000 HUF belegt. B. Gy. findet keine Arbeit, von der Sozialhilfe kann die Familie nicht leben, deshalb ist er täglich mit seinem Wägelchen unterwegs und sammelt in der Umgebung der Stadt Müll ein.
Ein anderer Mann erzählt: „Wir haben das Eisen die Straße entlang gezogen. Schlackeneisen. Auf meinem Handwagen war kein Katzenauge. Schon waren sie da und haben mich gestraft.“
Ein weiterer: „Es war der erste Wintertag. In der Früh hatte es ein wenig geschneit, nicht sehr viel, das Gras war ein wenig angezuckert, auf der Straße war nichts zu sehen. Ich habe in meiner Scheibtruhe Alteisen gefahren. Ein Polizist hielt mich an. Er fragte, warum ich keine Schneekette hätte? Dann hat er mich bestraft: 20.000 Forint.“
Ähnliches ereignete sich mit K. I., der mit einem klapprigen Fahrrad in den nahen Kramladen um Eier fuhr. Er verließ die Siedlung. Bei einer Entrümpelung hatte K. I. ein Klapprad gefunden, an dem er so lange herumdokterte, bis man damit wieder fahren konnte. Vergebens. Das Fahrrad war nämlich laut ungarischer StVO § 5. (1) b) nicht fahrtüchtig, weil kein roter Rückstrahler daran angebracht war. Man bestrafte K. I.: dreißigtausend Forint. Auch seinen Bruder. An seinem Fahrrad waren die Reifen „zu abgefahren“.
30.000 für Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit. R. Zs. trank vor dem Kramladen in der Nähe der Siedlung ein Bier, dabei wurde er vom Polizisten "ertappt".
Fast jede Zigeunersiedlung ist räumlich durch irgendwas von den Siedlungen der Mehrheitsbevölkerung getrennt. Durch Eisenbahntrassen, kleine Wälder, Fabriken, Lagergebäude. Die Hétes-Siedlung durch einen Graben und ein Brücke, die ihn überspannt.
„Wegen Verstoßes gegen das Verbot des Konsums alkoholischer Getränke“ hatte R. Zs. sich eines Vergehens schuldig gemacht. „Laut Anzeige überraschte die Polizeipatrouille genannte Person am 18. 5. 2009, um 14.35, auf dem Rombauer Platz in Ózd beim Konsum von Bier, das die Person aus eine Flasche mit der Aufschrift ‚Borsodi' zu sich nahm.“ Als erschwerende Umstände wurde "die Schwere und der Charakter der begangenen Tat“ angeführt, weiters, dass dieserlei nicht das erste Mal vorgekommen sei. Angaben, die als mildernde Umstände in Betracht hätten gezogen werden können, waren keine bekannt, die verfahrende Behörde verfügte über keinerlei Informationen bezüglich der persönlichen oder materiellen Verhältnisse des Täters.
„Dieser Kramladen ist der klasseste Ort für Verwaltungsstrafen. Die haben eine Kamera hier eingebaut. Wenn jemand Alkohol kauft, sind die Polizisten auch schon hier", klärt mich ein junger Mann auf.
So lebt sich’s im Getto.

Quelle: http://nol.hu/belfold/20091218-_nem_volt_a_talicskamon_holanc_-2

Das alles scheint, als würde es aus einem schlechten Film stammen. Es ist aber Realität. In einigen Tagen bin ich mit der Untertitelung eines Films fertig, der diese Fälle aufarbeitet, und in dem von noch viel interessanteren Sachen berichtet wird. Ungarn, ein Land, in dem die Zigeuner Bürger 3. Klasse sind, in dem (sogar in Budapest, wo dies schwieriger zu verwirklichen ist als auf dem Land) praktisch Apartheid herrscht, will Europa seine „Zigeunerstrategie“ aufschwatzen. Was diese Strategie sein soll, hat noch keiner gesagt. Wahrscheinlich alle Zigeuner ins Gas zu schicken (wenn man mit den Juden fertig ist). Wenn das alles nicht so traurig wäre, müsste ich laut lachen.

-----------

*Roma vs. Zigeuner


Im deutschsprachigen Raum wird man von Political-Correctness-Eiferern meist sofort angefallen, wenn man das Wort „Zigeuner“ verwendet, was auch diesmal wieder geschehen ist. Ich bin ein wenig verwundert, daß man sich nicht über den skandalösen Umgang von Behörden mit Menschen empört, sondern über ein Wort. Eine Diskussion beginnt, die scheinbare Blindheit für gute Absichten beweist, man entrüstet sich über eine Oberflächlichkeit, nicht über das Problem selbst, und greift jenen an, der skandalöse Zustände vermitteln will.
Diese politische Korrektheit wird im Allgemeinen von Leuten eingefordert, die von Zigeunern keine Ahnung und noch nie mit ihnen Umgang gehabt haben. Wird durch die Verdammung des „Zigeuners“ der Zigeunerholocaust ungeschehen gemacht? Die Bedeutung eines Wortes hängt immer davon ab, wie wir das Wort definieren und wie wir es verwenden (nicht wie es irgendwann einmal definiert und verwendet wurde). Zigeuner als „Roma“ zu bezeichnen ist einerseits inkorrekt, andererseits will man dadurch etwas verschleiern, durch die Verwendung anderer Terminologie bricht ganz einfach die Kontinuität zwischen Zigeunerverfolgung und Jetztzeit.
In Ungarn ist „Zigeuner" der allgemein gebräuchliche, teilweise offizielle Ausdruck (vgl. Zigeunerminderheitenselbstverwaltung – cigány kissebbségi önkormányzat) und wird auch von den Zigeunern selbst verwendet, weil er keine der verschiedenen ethnischen Gruppen innerhalb der „Indoeuropäer“ (Roma, Sinti, Chalderasch, Lowari, Beasch usw.) bevorzugt bzw. ausschließt. Man findet keinen Zigeuner, der sich von sich aus „Rom“ nennen würde (roma ist der männlich Plural von rom [Mann]; romnji = Frau, pl. romnjia), wenn er nicht Rom ist – also der „Roma-Linie“ (den Romanes-Sprechenden bzw. deren Nachkommen) der Zigeuner angehört. Warum müssen wir dann alle Roma nennen?