Freitag, 25. Juli 2008

Ungarn: Freie Bahn für die Feinde der Demokratie

Der Nazismus ist in Ungarn allgegenwärtig, sagte vor kurzem der Gründer der Ungarischen Antifaschistischen Liga, der Historiker, Professor Tamás Krausz und fügte hinzu: D"er Nazismus erlebt seit 1989 sogar einen regelrechten Triumphzug. Bei uns wird rechtes Gedankengut ungehemmt verbreitet, wobei ihm die Tatenlosigkeit der Behörden sogar den Weg ebnet"...

Von Magdalena Marsovszky
Mitarbeit: Katrin Kremmler

Auch der Leiter des Soziologischen Instituts der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Pál Tamás bestätigt diesen Trend: "Die äußerste Rechte befindet sich inzwischen in der Mitte, rechtsradikales Gedankengut wird allgemein akzeptiert, und 62 % der Befragten hasst die Roma schlicht und einfach", sagte er kürzlich in einem Interview. Tatsächlich sind in Ungarn die ausgrenzenden Ideologien stärker verbreitet als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg und die Gewalt auf der Straße ist inzwischen zum Hungaricum geworden.

Zuletzt war dies an der Gay Pride Parade, am 05. Juli 2008 der Fall, wo vermummte, maskierte Demonstranten die Teilnehmer mit Steinen, und Molotowcocktails bewarfen, die EU-Abgeordnete, Katalin Levai, den sozialistischen und den liberalen Abgeordneten Gábor Szetey und Gábor Horn angriffen, den bekannten linksliberalen Journalisten des Klubrádiós, József Orosz bewusstlos schlugen, 12 Polizisten verletzten, 13 Polizeifahrzeuge beschädigten, einen Kleinbus der Polizei in Brand setzten und dafür sorgten, dass die Parade zum Trauermarsch wurde. Es ist nur der Wachsamkeit der Polizei zu verdanken, dass eine größere Katastrophe vereitelt wurde: Kurz vor der Parade wurden auf den Hinweis von Nachbarn hin, die seltsame Gerüche aus einer sonst leer stehenden Wohnung bemerkten, sechs Männer festgenommen, die - dem Augenschein nach einige hundert - Eier mit Säure gefüllt hatten. Auch Chemikalien unbekannter Zusammensetzung, Säureflaschen und Behälter mit entzündlichen Materialien wurden sichergestellt.

Allgemein sind unter den Gewalttätigen nicht nur Hooligans, sondern immer auch gesetzte ältere Menschen zu finden, und wenn sie nicht selbst tätlich werden, so heizen sie die Lynch- und Pogromstimmung mit ihrem Gebrüll an, bei denen diesmal, wie auch sonst, außer schwulenfeindlichen Parolen auch antisemitische Äußerungen und Beschimpfungen des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány zu hören waren. Nicht selten sind sogar die Polizisten und die Sanitäter, die zum Schutz von Demonstranten bereitgestellt sind, denen offensichtlich feindlich gesonnen, die sie eigentlich verteidigen müssten. So wurde diesmal einigen Teilnehmern der Parade die medizinische Hilfeleistung verweigert, wobei sich die Sanitäter darauf beriefen, dass sie ausschließlich zur medizinischen Versorgung der Ordnungskräfte anwesend seien. Ihre Aussagen wurden von nahe stehenden Polizisten bekräftigt.

Wie man sich unter den Marschierenden hat fühlen können, beschrieb die "Literatin, Jüdin und feministische Aktivistin", Polnaire in einem Bloggerforum folgendermaßen: "Gestern habe ich selbst erleben können, wie es sich 1944 angefühlt haben muss, zwischen zwei Reihen von Passanten hindurchmarschieren zu müssen. Wenn ich mir alte Filmaufnahmen angeschaut habe, habe ich mich immer über die Gleichgültigkeit der Leute aufgeregt, die damals auf den Gehsteigen herumstanden und dem Marsch zusahen. Nun habe ich erfahren, wie es sich anfühlt, wenn die Menge nicht nur gleichgültig schweigt, sondern von sich aus auf beiden Seiten der Absperrung "Dreckige Schwuchteln!" brüllt. (Na gut, sie haben uns nicht bis ans Donauufer marschieren lassen). Aber es war wirklich erschreckend, dass man bis ganz zum Schluss beim Stadtwäldchen nicht aus dem Marsch ausscheren konnte, so gern manche das auch getan hätten. In Höhe der Benczúr Str. leitete man uns auf eine Seitenstrasse um, weil die Polizisten die Andrássy nicht sichern konnten, so brach für eine Weile der Kordon auf. Zwei meiner Angehörigen – ein junges Ehepaar – wollten sich dort aus der Parade ausklinken und auf eine Caféterasse setzen, einerseits weil sie noch zu tun hatten, und andererseits hatten sie schlichtweg Angst. Der Ort schien passend, um sich dort einen Kaffee zu bestellen und sich unter die "friedlichen Bürger" zu mischen. Es dauerte keine halbe Minute, und sie flohen wieder zurück zu uns, in die "sichere" Parade – auf der Caféterrasse sahen ihnen solche Mienen entgegen, dass sie es für die bessere Alternative hielten. (Ich habe schon von etlichen Holocaust-Überlebenden gehört /gelesen, warum sie damals freiwillig aus der "Freiheit" zu ihren Angehörigen ins Ghetto marschiert sind...)"

Ungarns Demokratie ist in Gefahr, und die Feinde der Demokratie, so scheint es, gewinnen langsam die Überhand.

József Orosz, der bewusstlos geschlagene Journalist des liberalen Klubrádió richtete deshalb eine Rede an die Öffentlichkeit, die auch als Appell aufgefasst werden könnte:

"Am Samstag gingen in Budapest Heterosexuelle und Homosexuelle, Männer und Frauen, Alte und Junge, Landbewohner und Budapester zusammen auf die Strasse – anderthalb Tausend Menschen. In London waren es eine halbe Million, in Köln wurde ein Straßenfest abgehalten. Weder aus der Inselmetropole noch vom deutschen Karneval berichten die Nachrichtenagenturen von gewaltsamen Ausschreitungen. Dass in London und Köln gefeiert werden konnte, ist neben der Polizei auch den Demokraten zu verdanken.

Bei uns wurde auf ganzer Länge der Andrássy Strasse ein dreifacher Kordon errichtet. Auf beiden Seiten des Boulevards konnten die Gaffer, die verehrten Hauptstädter Zeuge davon werden, wie anderthalb Tausend Menschen, eingeschlossen, im erstickenden Gestank von faulen Eiern, im Stein-, Raketen, Tomaten- und säuregefüllten Eierregen unter Lynchatmosphäre nur unter Polizeischutz fähig waren, ihre verfassungsgemäßen Rechte auszuüben.

Die Praxis des Verfassungsgerichtes in Fragen von Landfriedensbruch, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnungswidrigkeiten, lebensfeindlichen Ausschreitungen, Hassreden und Volksverhetzung; die Anklagepraxis der Staatsanwaltschaft, die Rechtssprechungspraxis der Gerichte, die Ermittlungspraxis der Polizei, die Double-speech der politischen Rechten, die Unfähigkeit der Regierung, die Einhaltung des Gesetzes zu erzwingen – all diese Faktoren zusammen, einander ergänzend und unterstützend, machen es möglich, dass die Radikalen in Ungarn schlichtweg Jeden – unsere Mitbürger, Freunde, Familienmitglieder, unsere Liebsten und Kinder, und auch Fremde und Unbekannte – terrorisieren, beleidigen, verprügeln und zusammenschlagen können. Die Verfassung garantiert uns die störungsfreie Ausübung des Rechtes auf freie Versammlung. Bei dem, was am Samstag geschehen ist, geht es um grundsätzliche Menschenrechte und den Kern der Demokratie. Wir alle sind in Gefahr! Die Republik, die Demokratie und das Recht lassen sich nicht durch Polizeikordons schützen. Der Sinn der Republik ist die Demokratie. Die Form der Demokratie ist die Republik. Das ist in Gefahr. Wir alle, Demokraten, sind in Gefahr. In unserem eigenen Land, hier in Ungarn."

Die gewaltbereite Stimmung in Ungarn erfährt zurzeit einen breiten gesellschaftlichen Konsens, wobei es das weit verbreitete völkische Denken im Land ist, das die Feindbilder generiert.

Dass das exklusive, völkische Denken auch in den akademischen Kreisen der Gesellschaft tief verankert ist, zeigt ein kurzer Ausschnitt aus einem Interview, das vor Kurzem im öffentlich-rechtlichen Kossuth Rádió zu hören war.

"Es gibt viele Erscheinungen, die man als ekelhaft empfindet", sagt der Mann auf die Frage nach der Gay Pride Parade in Budapest am 5. Juli. "Ich bringe Ihnen ein hässliches Beispiel. Nehmen wir das Bettnässen. Oder, wenn jemand seinen Stuhl nicht halten kann".
"Soll das heißen, dass Sie jetzt Parallelen ziehen?", fragt die Reporterin vorsichtig.
"Ja", antwortet er, "ich ziehe sehr wohl Parallelen. Wenn ein solches Symptom vorkommt, wird es mit Empathie behandelt, und wenn es möglich ist, wird es geheilt. Aber die Bettnässer werden keinen Aufmarsch organisieren und das Recht für sich beanspruchen, weiter ins Bett machen zu dürfen! Gegen solche Erscheinungen hat sich die Menschheit im Laufe der Geschichte immer gewehrt. Sie bedeuten im Zusammenhang mit der Erhaltung der Menschheit eine Gefahr, und zwar eine ähnliche wie die Pädophilie. Wir müssen aufpassen, denn die zwei Dinge sind nicht ganz unterschiedlich. Die Pädophilie gefährdet die Gesellschaft deshalb, weil sie Minderjährige gefährdet. Die Homosexualität deshalb, weil sie Erwachsene gefährdet".

Wer diese Sätze sagte, war kein Geringerer, als Gábor Vida, Evolutionsbiologe und Genetikforscher, Professor an der renommierten ELTE Universität, ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und der European Society for Evolutionary Biology und Inhaber verschiedener Preise.

Es gab zwar eine Empörung, aber nicht bei denen, von denen man es zuerst erwartet hätte. Der Präsident der Akademie der Wissenschaften, József Pálinkás, bis zu seiner Ernennung in seiner neuen Eigenschaft Mitglied der nationalkonservativen Partei Fidesz-Bürgerliche Union, distanzierte sich nicht von seinem Freund und Kollegen. Professor Vida habe sich im Sinne des Rechtes auf freie Meinungsäußerung geäußert, sagte er.

Viele in Ungarn denken wie Professor Vida. Ihnen, das heißt, den völkisch gesinnten Meinungsbildnern, Wissenschaftlern, Politikern bieten die national-völkischen Medien eine geeignete Plattform, um ihre exklusive Haltung ungehemmt verbreiten können.

Die wichtigsten völkischen Parteien in Ungarn, die im Parlament vertreten sind, sind die Fidesz Bürgerliche Union (Fidesz-MPSZ), größte Partei des Landes, zur Zeit in der Opposition und voraussichtlicher Wahlsieger im Jahre 2010, sowie die Christlich Demokratische Volkspartei (KDNP), nach deren Selbstverständnis beide "christlich-partriotisch", deren Mitglieder öfters Antisemitisches äußern und mit außerparlamentarischen Rechtsradikalen zusammenarbeiten. Sie visionieren permanent das Chaos und den Untergang, weshalb der Ruf nach Ordnung und nach der "Erlösung der Gemeinschaft" mit Hilfe eines Führers immer größer wird.

Die beliebtesten völkischen Medien sind das HirTV (Nachrichten TV), das EchoTV und die zwei Tageszeitungen Magyar Hírlap (Ungarisches Nachrichtenblatt) und Magyar Nemzet (Ungarische Nation). Sie sind antidemokratisch, weil sie unausgewogen eindeutig als das Sprachrohr der völkischen Parteien tätig sind und auch die außerparlamentarische extreme Rechte legitimieren, womit sie selbst die Ausgrenzungstendenzen in der Gesellschaft nähren.

So war der Vorsitzende der Menschenrechtskommission im Ungarischen Parlament, Zoltán Balog (Fidesz-Bürgerliche Union) in einem Gespräch mit dem Moderator des HirTV, Philip Rákay im Zusammenhang mit der Gay Pride Parade vollkommen einer Meinung: "Menschenrechte haben nicht nur die Schwulen. Wir sollen diese Minderheiten schützen, aber bitte nicht zum Schaden der Mehrheitsgesellschaft".

Im Echo TV hat sich der Historiker, Vorstandsmitglied des "Haus des Terrors" und Betreiber der rechtsradikalen Internetportals www.barikad.hu, László Tóth Gy. ähnlich geäußert. Nach seiner Meinung war die Parade eine "einfache und billige Provokation" von Menschen, die eine "sexuelle Devianz" haben. In Ungarn stünden hinter dieser Parade "politische Interessen". Er benannte sodann auch gleich die Partei, die nach seiner Meinung hinter der Parade steht, nämlich die Liberalen. Da im völkisch-antisemitischen Diskurs die Liberalen schlicht als die "Judenpartei" gilt, stand für die Zuschauer sofort fest: Die Drahtzieher hinter solchen Ereignissen seien die Juden.

Eigentümer von EchoTV und Magyar Hirlap ist seit etwa einem Jahr der Forintmilliardär, Fabrikant, Medienmagnat und Ehrenvorsitzende des Arbeitgeberverbandes, Gábor Széles, der für eine künftige Regierung unter Fidesz-Bürgerliche Union als Wirtschaftsminister gehandelt wird, und der es zur Zeit mit den "Zigeunern" besonders gut meint. Man müsste ihnen nur von Zähneputzen bis zum Klo alles richtig beibringen und sie in ihrem Denken ändern, damit sie arbeiten, meint er.

Diese Beispiele zeigen deutlich, dass Gewaltausbrüche anlässlich der Gay Pride Parade nur die logische Konsequenz der ständigen Mobilisierung von seiten der völkischen Parteien und der völkischen Medien sind und nur die Spitze des Eisberges bedeuten. Diese Medien haben neben den rechtsradikalen Internetportalen die wichtigste mobilisierende Funktion im völkischen Kampf. Die völkischen Parteien und Medien nehmen die Hilfe der außerparlamentarischen Rechtsradikalen gerne in Anspruch und stellen für sie eine Plattform bereit, in der sie sich frei entfalten können. Diese sprechen dann ganz klar aus, was Sache ist, gehen zu Demonstrationen und werden stellvertretend für sie gewalttätig.

Selbst wenn sich die bereits erwähnten Parteien und Medien moderater ausdrücken, heißt das also noch lange nicht, dass sie demokratischer wären. Der Parteiführer von Fidesz-Bürgerlicher Union (Fidesz-MPSZ), Viktor Orbán, akzeptiere die parlamentarische Demokratie bereits jetzt nicht mehr. Sollte er 2010 die Wahlen gewinnen, was momentan realistisch erscheine, dann werde hier zwar eine verfassungskonforme, jedoch eine autokratische Machtübernahme ungesehenen Ausmaßes zu beobachten sein, sagte der Politologe József Debreczeni dem Klubrádió.

Dieser Entwicklung scheint auch das Verfassungsgericht zuvorkommen zu wollen, das auf Empfehlung des Staatspräsidenten László Sólyom vor kurzem den Gesetzentwurf zum Verbot der "Hassrede" kippte.

Die Meinungsfreiheit würde dadurch eingeschränkt, und die Demokratie in Ungarn sei stark genug, um sich zu verteidigen, hieß es in der Begründung. In der wichtigsten Frage, die zur Zeit die ungarische Öffentlichkeit beschäftigt, nämlich, wo eigentlich Hassrede anfinge und was noch vom Gesetz zur freien Meinungsäußerung abgedeckt werde, entschied sich das Verfassungsgericht dafür, das man weiter Juden-, Zigeuner- und Schwulenhetze betreiben könne.

Noch gibt es einige demokratisch denkende Zivilorganisationen und Verfassungsrechtler sowie den Ministerpräsidenten Gyurcsány, die damit nicht einverstanden sind. Die Verfassungsrechtler wollen in die Berufung gehen, zivile Organisationen haben das Verfassungsgericht aufgerufen, seine destruktive Haltung aufzugeben und statt dessen zu kooperieren, und der Ministerpräsident rief eine Charta für die Demokratie ins Leben.

"Die immer größere Massen ergreifenden antisemitischen und rassistischen Übergriffe stellen die Geduld der Gesellschaft immer mehr auf die Probe und führen logischerweise zu Konflikten", steht in einer Petition der Ungarischen Antifaschistischen Liga. "Die Gerichtsurteile scheinen der Reihe nach zugunsten der Rechten auszufallen und hinterlassen den Eindruck, als ob die Gerichte mit faschistoiden Gedanken sympathisieren würden. Das Urteil des Verfassungsgerichtes ist, als ob man Öl aufs Feuer gießen würde. Es nützt eindeutig den Kräften, die eine neonazistisch orientiert sind. Die Ungarische Antifaschistische Liga fordert deshalb die Regierung auf, der Stärkung der Rechten entgegenzuarbeiten und einen neuen Gesetzesentwurf gegen die Hassrede dem Parlament vorzulegen".

Inzwischen ahnt man in Ungarn, dass im Kampf um die Demokratie vom Westen wenig Beistand zu erwarten ist. "Es ist eine Illusion", sagte der bereits erwähnte Politologe József Debreczeni, "eine bestimmte Garantie für die Demokratie in der internationalen Staatengemenischaft zu erhoffen, in der wir uns befinden. Angefangen von der Olympiade in Peking bis hin zur Zusammenarbeit mit Putin sehen wir unzählige Beispiele dafür, dass der Westen in erster Linie nicht an der politischen Stabilität interessiert ist, sondern an der Wahrung seiner eigenen Interessen. Dafür ist er auch bereit, solche Regime als Partner zu akzeptieren, die bei näherem Hinschauen ganz offensichtlich nicht demokratisch sind".

Quelle: http://www.hagalil.com/europa/ungarn/ungarn.htm