In Ungarn wird zwischen rechts und rechtsextrem regiert: Paul Lendvai über ein national-populistisches Experiment mit offenem Ausgang und womöglich explosiven Polit-Folgen.
Der überwältigende Fidesz-Sieg bei der Parlamentswahl von April 2010 hat in Ungarn die Weichen für ein völlig neues System gestellt. Ministerpräsident Viktor Orbán nennt es das "System der Nationalen Zusammenarbeit" und lässt den schwülstigen Text des Manifests über die "Revolution an den Urnen", von seiner Zweidrittelmehrheit gehorsam bewilligt, in allen Ämtern (in einem 50 mal 70 Zentimeter großen Glasrahmen) aushängen.
Kritiker sprechen von dem unaufhaltsamen Gang in Richtung einer autoritären Ordnung, einer Politik der starken Hand, die die 1989-1990 eingebauten demokratischen Sicherungen und verfassungsmäßigen Grenzen der Macht im Blitztempo aus dem Weg räumt. Orbán rühmte sich in seiner Schlussrede nach der ersten Sitzungsperiode des neuen Parlaments, sein "nationales Zentrum" hätte in 56 Tagen mehr getan als die sozial-liberalen Regierungen in acht Jahren. Niemand kann nach dem schwungvollen Anfang des neuen Regimes daran zweifeln, dass der siegreiche Fidesz-Führer seine vor einem Jahr bei einer geschlossenen Veranstaltung zum ersten Mal geäußerten Gedanken über die Schaffung eines nationalen Zentrums im Gewand einer einzigen großen Partei tatsächlich verwirklichen will.
Worin liegt also die Einzigartigkeit des Sieges von Orbán im Endkampf gegen Sozialisten und Liberale? Wieso war es ihm überhaupt möglich, eine Zweidrittelmehrheit zu schaffen? Was sind die Folgen dieser politischen Weichenstellung für Ungarn und Europa?
Bei der Bewertung des auch im europäischen Maßstab außerordentlichen Erfolgs des Fidesz muss man allerdings auch den mehrheitsfördernden Effekt des ungarischen Wahlsystems in Betracht ziehen. Mit einem Anteil von über 52 Prozent konnte Fidesz nach zwei Wahlgängen am 11. und 25. April 2010 (zusammen mit der winzigen Satellitenpartei, der Christdemokratischen Volkspartei) mehr als zwei Drittel der Parlamentssitze gewinnen. Wenn man auch bedenkt, dass die Wahlbeteiligung nur 64 Prozent betrug, ist an der Tatsache nicht zu rütteln, dass Fidesz mit den Stimmen eines Drittels der Wahlberechtigten 68 Prozent der Parlamentssitze gewinnen konnte.
Angesichts des Geredes über das "System der Nationalen Zusammenarbeit" wies der scharfe Orbán-Kritiker, sein Biograf József Debreczeni, es als "eine auf lauter Lügen aufgebaute Geschichtsfälschung" zurück. Die auf die Fidesz-Liste abgegebenen 2,7 Millionen Stimmen machten knapp mehr als die Hälfte der tatsächlichen Stimmen, rund ein Drittel der Wahlberechtigten und etwa ein Viertel der Bevölkerung aus. Man könne also den Fidesz kaum als den Träger "des ungeteilten Willens der einheitlichen ungarischen Nation" bezeichnen.
In Wirklichkeit handelt es sich zwar um eine Zäsur in der politischen Geschichte Ungarns, allerdings keineswegs im Sinne der Schaffung eines Systems der nationalen Einheit nach einer "erfolgreichen Revolution an den Urnen", nach einer "historischen Tat der ungarischen Nation". Die hochmütigen Phrasen in dem von der parlamentarischen Mehrheit angenommenen "Manifest der Nationalen Zusammenarbeit" dienen nur als Dekoration für das Übergewicht der rechten und extrem rechten Kräfte im neuen Parlament. Es wäre allerdings unklug, die politische Brisanz der Jobbik, der neuen Kraft am extrem rechten Rand, zu unterschätzen. Für Orbán kann die rechtsradikale Partei im Falle der Verschlechterung der Wirtschaftslage gefährlich werden. Man muss auch betonen, dass die Gefahr für die absehbare Zukunft nur von rechts droht.
Warum? Es geht nicht nur darum, dass Jobbik, nicht zuletzt dank der Publizität um die Ungarische Garde, fast 17 Prozent der Stimmen und damit 47 Mandate gewonnen hat. Beobachter sehen eine potenzielle Gefahr auch darin, dass die Rechtsradikalen bei der Jugend außerordentlich stark sind. So stimmten 23 Prozent der zwischen 18 und 29 Jahre alten Wähler für Jobbik. Die Partei schnitt im Nordosten und Osten, in Regionen mit einem relativ hohen Roma-Anteil besonders gut ab. Die nationalistische, fremden- und romafeindliche sowie offen antisemitische Rhetorik wurde von den rechten Medien ausführlich wiedergegeben. Bei der Anziehungskraft der Jobbik für junge Wähler spielen auch die rechtsextremen Internetportale wie Kuruc.info und Barikad.hu eine wichtige, wenn auch von den der ungarischen Sprache nicht mächtigen Beobachtern oft ignorierte Rolle.
Es darf nicht verschwiegen werden, dass Orbán sich weder in der Kampagne für die Europawahlen im Juni 2009 noch vor den ungarischen Parlamentswahlen 2010 eindeutig und öffentlich vom extrem rechten Rand distanziert hat. Als er bei einer geschlossenen Sitzung mit Studenten befragt wurde, wie er als Ministerpräsident mit der Jobbik umzugehen gedenke, antwortete er salopp: Wie Horthy sich gegenüber den Pfeilkreuzlern verhielt, so würden die Jobbik-Leute von ihm auch "zwei Ohrfeigen kriegen, und damit hat sich's ..."
Die ideell-politische Nähe zwischen vielen Abgeordneten der 262 Mann starken Fidesz-Fraktion und den 47 Jobbik-Leuten im Parlament dürfte eine doppelbödige Strategie der Regierungspartei ermöglichen: durch die Zerschlagung der Gruppe der unverbesserlichen Extremisten und durch "Inhalieren" der paktfähigen Aufsteiger aus dem Jobbik-Lager die Lufthoheit in Sachen "Sammelpartei der Rechten" zu gewinnen. Dass übrigens der offensiv-nationale und rechtskonservativ-klerikale Kurs der Orbán-Regierung auf keinen Widerstand der Bevölkerung stößt, zeigen die letzten Umfragen, wonach über 70 Prozent der Befragten eine starke Regierung ohne Parteienhader und 50 Prozent sogar eine einzige dominante Partei wünschen. In ihrem "Manifest der Nationalen Zusammenarbeit" heben die erfolgreichen Fidesz-"Revolutionäre" die folgenden Säulen des "durch den Volkswillen entstandenen neuen politischen und wirtschaftlichen Systems" und "der Verbindung zwischen den Angehörigen der vielfarbigen ungarischen Nation" hervor: "Arbeit, Heim, Familie, Gesundheit und Ordnung". In der Präambel der Trianon-Deklaration (der Trianon-Vertrag wurde am 4. Juni 1920 unterzeichnet) zum "Tag der nationalen Zusammengehörigkeit" heißt es: "Gott ist der Herr der Geschichte". Die geplante neue Verfassung soll laut Mitgliedern des Redaktionsausschusses diverse Hinweise auf Gott, die christlichen Wurzeln des Ungartums und die Heilige Stephans-Krone enthalten.
Die verschiedenen hochtrabenden Reden Orbáns und die salbungsvollen Deklarationen bei den nationalen Feierlichkeiten lassen die Mahnung in Erinnerung rufen, welche Helmut Schmidt in einem Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern geäußert hat: "Die Erziehung des Volkes zu einem Ideal hin oder in Richtung auf einen Wertekanon ist eigentlich nicht Sache der Politik und schon überhaupt nicht Sache der Regierungen. Natürlich gibt es immer wieder Politiker, die sich damit schmücken, dass sie pädagogischen oder volkserzieherischen Prinzipien folgen ... Politische Führer, die gleichzeitig kulturelle Führer sein wollen, sind mir zutiefst verdächtig."
Als der Publizist József Debreczeni, der ehemalige konservative Abgeordnete, in den letzten Jahren in aufsehenerregenden Artikeln und auch in seiner groß angelegten Orbán-Biografie vor den Folgen des bedenkenlosen Opportunismus und der unersättlichen Gier nach Macht warnte, fanden selbst manche liberale oder linke Fidesz-Gegner seine Analysen und Warnungen vor einer Zweidrittelmehrheit übertrieben pessimistisch. Im Epilog seines Werkes schrieb er: "Im Besitz der Verfassungsmehrheit kann er das Mandat in eine uneinnehmbare Festung der Macht umbauen. Man sollte keine Zweifel haben, dass Orbán hemmungslos und restlos die in seine Hände geratene Macht ausnutzen wird." Die seit dem Wahlsieg erfolgten Verschiebungen im Herrschafts- und Gesellschaftsgefüge bestätigen vollauf Debreczenis düstere Voraussagen.
Zwischen 2002 und 2010 bot das sozialistisch-liberale Lager ein jämmerliches, ja zuweilen ekelerregendes Bild von Filz, Vetternwirtschaft und politischer Verkommenheit. Die total diskreditierten Sozialisten bilden für die absehbare Zukunft keine schlagkräftige Opposition. Die meisten linksliberalen Politiker allerdings haben sich jahrzehntelang in der Brutstätte der Korruption und in dem von ihr genährten Klientelsystem bestens zurechtgefunden. Bei seinem Griff nach der absoluten Machtfülle konnte Orbán ohne den Widerstand einer funktionierenden Zivilgesellschaft den weit verbreiteten Wunsch nach einer starken, ordnenden Hand erfüllen. In einem tief enttäuschten linken Kreis kursierte vor Jahren das Bonmot: "Gyurcsány will das Gute, aber er macht es schlecht; Orbán will das Böse, aber er macht es gut ..."
Der willensstarke Stratege der Macht und gewiefte Taktiker der innerparteilichen Flurbereinigung wollte nach seinem Wahlsieg schnell und unwiderruflich die Rahmenbedingungen schaffen, um den Fidesz zum alleinherrschenden Machtfaktor in jenem "zentralen politischen Kraftfeld" zu machen, wo er für die "kommenden 15 bis 20 Jahre" von der Opposition unbehindert schalten und walten kann. Zur Verwirklichung dieses im demokratischen Europa einzigartigen Vorhabens musste Orbán rechtlich und faktisch die 1989 bis 1990 geschaffenen Verfassungsgarantien der Machtteilung rechtzeitig abschaffen. Es ging dabei um sachliche und personelle Entscheidungen, die der 47-jährige starke Mann in 56 Tagen nach Belieben treffen konnte. Der potenziell wichtigste und selbst in konservativen Kreisen Befremden und Erstaunen auslösende Beschluss war die Nominierung Pál Schmitts, des olympischen Medaillengewinners als einstiges Mitglied der ungarischen Fechtermannschaft in Mexiko und München, zum nächsten Staatspräsidenten. Der 68-jährige Vizepräsident von Fidesz ist eine zwar populäre Figur, doch zugleich ein politisches Leichtgewicht. Als Vizepräsident des Sportministeriums gehörte Schmitt zur privilegierten Machtelite des Kádár-Regimes. Er hatte dem kommunistischen System ebenso verlässlich gedient wie sowie die Ombudsmänner. Schmitt wird kaum je solche Persönlichkeiten ernennen oder vorschlagen, die gegenüber der Regierung kritisch eingestellt sind.
Viktor Orbán hat auf allen Ebenen eine beispiellose Umbesetzungswelle ins Rollen gebracht. Von der Armeespitze zu den Polizeichefs, vom Katastrophenschutz zum Pferderennen, von der Lotterie zu den Staatsbahnen, von der Rentenversicherung zum Statistischen Zentralamt wurden Fidesz-Kader eingesetzt oder traten manche Amtsleiter von sich aus zurück. Die umstrittensten Ernennungen erfolgten an der Spitze des Rechnungshofes und der Finanzaufsicht. Nicht Experten, sondern zwei Fidesz-Abgeordnete kamen zum Zug, die Presseberichten zufolge selbst wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten keine weiße Weste hatten. Ein neues Gesetz sorgt dafür, dass die Staatsbeamten jederzeit und ohne Begründung mit zweimonatiger Kündigungsfrist entlassen werden können. Dass Orbán auf die Empfindlichkeiten der geschlagenen Gegner keine Rücksicht nimmt, zeigt übrigens die Tatsache, dass er zum Vorsitzenden des Parlaments seinen engsten Weggefährten, jenen Laszlo Kövér, eingesetzt hat, der während der letzten zwei Jahrzehnte wiederholt mit den derbsten Ausdrücken die Gegner, zuletzt den damaligen Premier Gyurcsány, beschimpft hatte.
Wichtiger als diese Stilbrüche ist die totale Machtübernahme im Medienbereich. Alle staatlichen Medien, die Fernseh- und Radiosender sowie die Nachrichtenagentur MTI werden von der neuen Nationalen Medien- und Telekommunikationsbehörde zusammengefasst und kontrolliert. In einer zweiten Phase werden die Chefs bestellt und auch die privaten Medien, zumindest was ihre Programme betrifft, ins Visier genommen. Die Zusammensetzung aller Organe wird natürlich durch die Zweidrittelmehrheit des Fidesz bestimmt. Orbán hat bereits Anfang August eine langjährige Fidesz-Medienexpertin für neun Jahre (!) zur Chefin dieser Behörde ernannt. Die Proteste der verschiedenen internationalen Medieninstitutionen werden, abgesehen vom aggressiven Selbstmitleid der kritisierten Fidesz-Presseleute, kaum Wirkung haben.
Man darf allerdings bei der Abwägung der zukünftigen Chancen des Orbán-Regimes die bereits sofort nach der Machteroberung sogar international offensichtlich gewordene Mischung aus Dilettantismus, grenzenlosem Populismus und Voluntarismus (laut Duden: "die philosophische Lehre, die den Willen als Grundprinzip des Seins ansieht") nicht übersehen. Bereits Monate vor der Wahl hatten, mit Orbán angefangen, alle Fidesz-Politiker der Regierung Bajnai Budgetfälschung unterstellt und die dem Fidesz nahestehenden Medien über die Bedeutung der vielen "Leichen im Keller" spekuliert. Statt der offiziellen Angaben über ein voraussichtliches Budgetdefizit in der Höhe von 3,8 bis vier Prozent hatten die Fidesz-Wirtschaftssprecher verkündet, es könnte sechs bis 7,5 Prozent erreichen. In den ersten Junitagen hatte Lajos Kósa, der stellvertretende Fidesz-Chef und Bürgermeister von Debrecen, bei einer Wirtschaftskonferenz die Bombe gezündet: Er verglich den Zustand der ungarischen Staatsfinanzen mit dem der griechischen und sprach von der Gefahr eines Staatsbankrotts.
Statt das Feuer zu löschen, schüttete einen Tag später der Sprecher Orbáns, Péter Szijjártó, weiter Benzin auf die Flammen: Es sei keine Übertreibung, über einen Staatsbankrott zu sprechen, und er fügte noch stolz hinzu, jeder Politiker dürfe es als eine Ehre betrachten, wenn nach einem Wort von ihm Börsen- und Wechselkurse in Bewegung kommen ...
Die durchsichtige Diskreditierungskampagne der Amateure gegen die Vorgänger erwies sich bald als ein folgenschwerer Bumerang. Der dilettantische Versuch, die Wählererwartungen nach den vielen Wahlversprechungen zu dämpfen, schickte den Forint auf Talfahrt und hat dem Image Ungarns laut allen ausländischen Beobachtern ernsthaften Schaden zugefügt. Der Abbruch der Gespräche mit der Delegation des Internationalen Währungsfonds, die Einführung der - gemessen an der Wirtschaftsleistung - höchsten Bankenabgabe der Welt und nicht zuletzt die trotzigen nationalistischen Reaktionen des Ministerpräsidenten haben laut der angesehenen Finanzexpertin Zita Mária Petschnig das anfängliche Vertrauen der Auslandsinvestoren größtenteils verspielt. Angesichts der beinahe totalen Kontrolle über Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft, Geheimdienste und staatliche Medien wird die Regierung weiterhin versuchen, alle Schuld auf die Vorgänger abzuschieben.
Der Ablenkung wird auch die bereits angelaufene Jagd nach Sündenböcken dienen. Die von Orbán und seinen Getreuen am laufenden Band verbreiteten Phrasen eines völkischen Antikapitalismus gegen die heimischen Oligarchen und die fremden Spekulanten und über den Schutz der "fleißig arbeitenden ungarischen Menschen" ziehen noch immer, so scheint es zumindest im Spiegel der Umfragen.
Dass die mit Orbán persönlich befreundeten, weitaus reichsten ungarischen Forintmilliardäre von Spitzenbankiers bis zu Großindustriellen und Ölbaronen fast alle Fäden in der Hand haben, wissen natürlich nur die eingeweihten Beobachter. "Macht ohne Missbrauch verliert an Reiz", meinte Paul Valéry schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Das galt freilich auch für alle Regierungen seit der Wende. Das Schweigen und Verschweigen prägen nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, wie Fritz Stern in seinem Buch Das feine Schweigen erläutert hat, sondern auch das Krebsübel der Korruption im politisch-sozialen Bereich. Die Ungarn sind wie die meisten Menschen geneigt, sich an "angenehme Illusionen" (wie Edmund Burke es nannte) zu klammern, sich selbst, die eigene Familie und die eigene Nation zu verschonen.
Die Zukunft wird zeigen, ob die Ungarn während ihres zweiten Experiments mit Viktor Orbán ihre angenehmen Illusionen, so wie bei den Vorgängern, von Antall bis Gyurcsány, fallen lassen müssen. Eine noch wichtigere Frage für die Zukunft ist die europäische Dimension des ungarischen Sonderweges zu Orbáns "System der Nationalen Zusammenarbeit". Die Gesetze über die doppelte Staatsbürgerschaft und der Tag des Gedenkens für Trianon hatten
vor allem in der Slowakei, aber auch in Rumänien und Serbien Ängste, nationalistische Gegenreaktionen und eine Gewissenserforschung auch bei den Minderheiten ausgelöst. Wird die Regierung Orbán den offensiven Nationalismus aus der Oppositionszeit fortsetzen, und wie wird sie auf wahrscheinliche Provokationen der von fanatischem Wunschdenken getriebenen Rechtsextremisten von Jobbik reagieren?
Die Publizistin Krisztina Koenen hatte in der Welt gewarnt, Ungarn als einziger gefestigter Nationalstaat in der Region habe das Potenzial, mit sich selbst auch seine ganze Umgebung zu destabilisieren. Die historischen Erfahrungen zeigen, dass die am Donauraum aus geografischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen interessierten Staaten, vor allem also Österreich und Deutschland, ein eminentes Interesse am Erfolg der Europäisierung im Gegensatz zum Wiederaufleben des selbstmörderischen Nationalismus haben. Die deutsch-französische Versöhnung oder der österreichisch-italienische Weg zum Südtirol-Kompromiss sollten als Wegweiser für die Entschärfung der Trianon-Erbschaft in den Beziehungen zwischen Ungarn und den Nachbarländern mit großen ungarischen Minderheiten dienen. Nicht nur die politische Elite Ungarns, sondern auch Österreich und Deutschland und darüber hinaus die EU tragen eine besondere Verantwortung dafür, dass die Kräfte der Besonnenheit letzten Endes in Budapest und in der ganzen Region die Oberhand gewinnen. Vielleicht sollten sich die Ungarn und alle Mitteleuropäer an Karl Kraus erinnern: "Am Chauvinismus ist nicht so sehr die Abneigung gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eigenen unsympathisch." (Paul Lendvi/DER STANDARD, ALBUM, 9./10.10.2010)
Prof. Paul Lendvai ist Publizist, Leiter des ORF-"Europastudios", Chefredakteur der "Europäischen Rundschau" und Standard-Kolumnist. Dieser Text ist das (leicht gekürzte) Schlusskapitel seines soeben erschienenen Buchs "Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch".
Quelle: http://derstandard.at/1285200409421/Ungarn-Orban-ueber-alles
Freitag, 29. Oktober 2010
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