Kriminalisierung von Hebammen in Ungarn - Agnes Gereb seit dem 5. Oktober 2010 in Haft
In Handschellen und Fußfesseln wird sie in den Gerichtssaal geführt, ihre Familie durfte sie bisher nur einmal empfangen. Ihre einmonatige Untersuchungshaft wurde am 8. November um weitere sechzig Tage verlängert.
Man könnte meinen, Ágnes Geréb hätte einen Anschlag auf die Regierung vorbereitet. Angeklagt ist die 57-jährige jedoch aus ganz anderen Gründen.
Am 5. Oktober untersuchte die Gynäkologin und Hebamme eine hochschwangere Frau in dem von ihr gegründeten "Napvilág Geburtshaus" in Budapest. Weil die Wehen der Patientin vorzeitig eintraten, rief Geréb einen Krankenwagen. Denn den komplizierten Fall wollte sie nicht selbst betreuen. Mit den Sanitätern erschien die Polizei. Und anders als Mutter und Kind, die ins Krankenhaus gebracht wurden, landete die Ärztin im Gefängnis. Vorgeworfen wird ihr Fahrlässigkeit in der Berufsausübung und Kurpfuscherei. Damit erwarten sie bis zu fünf Jahren Haft.
In vier Fällen ist Géreb angeklagt. Neben dem aktuellen Vorfall sind das drei Neugeborene, die während oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Mit drei von 3.500 Babys, die Géreb auf die Welt geholt hat, liegt diese Sterberate unter der in ungarischen Krankenhäusern. Zu einer Anklage reichte das, zusammen mit dem aktuellen Fall, trotzdem aus. Géreb stieß schon häufiger mit dem Gesetz zusammen: So wurde sie für ein halbes Jahr aus einem Krankenhaus verwiesen, weil sie Väter im Kreißsaal zugelassen hatte – ein Vergehen, das heute auch in Ungarn zur Normalität geworden ist. Wegen wiederholter unerlaubter Geburtshilfe war sie von 2007 bis 2010 mit einem Berufsverbot belegt.
An dem Fall Géreb entzünden sich in Ungarn die Gemüter. Ambulante Geburtshilfe ist zwar theoretisch legal, wird praktisch aber mit allen Mitteln behindert. VertreterInnen der Ärzteverbände und AnhängerInnen alternativer Geburten liefern sich nun wilde Gefechte zu den Vor- und Nachteilen beider Methoden. Kern des Streits ist jedoch etwas anderes: "Es geht hier nicht um den Kampf zwischen Befürwortern von Klinik- und Hausgeburten", sagt Donal Kerry, ein Sprecher der Vereinigung "Eltern für die freie Geburt Ungarn". "Es geht um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen." Dass Ungarn eine Frau wie eine Terroristin behandeln könne, die sich unermüdlich für Frauenrechte einsetze, findet der Wahlungar "enttäuschend und schockierend". Seine Gruppe setzt sich für die Freilassung der Hebamme ein.
Die Gesundheitsbehörde ÁNTSZ (Ungarische Staatsdienststelle für Volksgesundheit/ Állami Népegészségügyi és Tisztiorvosi Szolgálat) erteilt freien Hebammen keine Lizenz, die zur Betreuung von Hausgeburten notwendig wäre. Denn der ungarische GynäkologInnenverband (Szülészeti és Nőgyógyászati Szakmai Kollégium, SZNSZK), der die Gesundheitsbehörde berät, stuft Hausgeburten als gefährlich ein – anders als die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Etwa 15 freie Hebammen betreuen dennoch Hausgeburten und machen sich damit strafbar.
Dass hinter der Einschätzung der ÄrztInnen eigene Interessen stehen, davon sind die "Eltern für die freie Geburt Ungarn" überzeugt. KlinikärztInnen hätten in Ungarn ein besonderes Interesse daran, das Monopol über die Geburtshilfe zu halten. Denn nur so könnten sie ihre im europäischen Vergleich extrem niedrigen Gehälter aufbessern. Ein Arzt, der regulär etwa 300 Euro im Monat verdient, erhält für seine Betreuung der Geburt "Trinkgelder" von den Eltern, die einem durchschnittlichen Monatsgehalt entsprechen können. Von 15.000 (etwa 60 Euro) bis zu 70.000 Forint (255 Euro) könne so ein "Geschenk" kosten, sagt Zsófi Váradi, die ihre beiden Kinder in ungarischen Krankenhäusern geboren hat. Die unauffällig übergebenen Umschläge gehörten zum Krankenhausalltag, erklärt sie.
Einige hundert Eltern entscheiden sich trotz der Nichtanerkennung jedes Jahr für eine Hausgeburt. Ihre Wahl begründen sie nicht nur mit den hohen Kosten der Krankenhäuser, sondern vor allem mit ihrer Unzufriedenheit mit der Behandlung. So werden in ungarischen Kliniken über 30 Prozent aller Kinder per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Laut der WHO gibt es für eine Rate von über 12 Prozent keine medizinische Begründung. Das Vertrauen in die moderne Medizin ist hoch in den Krankenhäusern, doch manche Eltern wünschen sich eine "natürliche" Geburt statt der Trennung von Mutter und Kind direkt nach der Geburt, standardisierter Dammschnitte und Schmerzmittelvergabe. Diese Instrumente werden fast immer angewendet, oft müssen sie extra bezahlt werden. "Wir sind für die Ärzte da statt sie für uns", beschwert sich Zsófi Váradi. Ihre Macht sei übergroß, und um diese nicht zu verlieren, stellten sie sich gegen Hausgeburten.
Doch auch von einigen Ärzten kommt Unterstützung: Die Organisation "Ärzte für freie und sichere Geburten" hält die Vorwürfe gegen Géreb für vorgeschoben: "Unserer Meinung nach soll die Untersuchungshaft diejenigen einschüchtern, die unter ungestörten Bedingungen gebären wollen und den geistigen Widerstand von Dr. Ágnes Géreb zerstören", heißt es in einer Pressemitteilung. Solche Beweggründe wiesen auf ein merkwürdiges Demokratieverständnis hin, kritisieren die Ärzte.
Die Nichtregierungsorganisation TASZ (Ungarische Vereinigung für Bürgerrechte) hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und beim Ungarischen Verfassungsgericht Beschwerde gegen die Verhaftung eingelegt. "Nicht nur Dr. Ágnes Geréb ist inhaftiert, sondern mit ihr auch die Menschenrechte – das Recht frei zu entscheiden, wo und mit wessen Hilfe die Mütter entbinden möchten", heißt es in einer Pressemitteilung des Vereins Geburtshaus (Születésház Egyesület). Neben der Freilassung von Ágnes Géreb fordern ihre UnterstützerInnen eine gesetzliche Regelung von Hausgeburten unter Einbezug von Hebammen und internationalen ExpertInnen. Die Strafverfolgung von Geburtshelferinnen – neben Géreb sind derzeit vier weitere angeklagt – soll bis zur Einführung dieser Regeln eingestellt werden. In Deutschland erfährt Géreb bislang keine offizielle Unterstützung. "Ágnes Géreb ist keine Hebamme sondern eine Ärztin, die ihre Zulassung in Ungarn bereits vor längerem verlor und seitdem illegal Hausgeburtshilfe anbietet.", schreibt der Deutsche Hebammenverband an seine Mitglieder. Unterstützen will er Géreb deshalb nicht.
[Ja, aber ihr ist die Zulassung entzogen worden, weil sie Hausgeburten durchführte. Welch perverse Welt. Kein gutmütiges Schilda. Ein menschenverachtendes.]
Claire Horst
Quelle: http://www.aviva-berlin.de/aviva/Found.php?id=1429785
Freitag, 26. November 2010
Freitag, 19. November 2010
Erotische Kochlöffel und die Kohäsion der Alten
Schon das letzte mal, als Fidesz an der Macht war - von 1998 bis 2002 - gelang den Mannen, die gerne Fußballspielen und Andersdenkende gerne am Strick baumeln sehen würden (besonders der heutige Parlamentspräsident Kövér), neben dem Széchenyi-Plan (Werbespruch: „Wagen wir, groß zu sein!”), eine geniale Sache im Zusammenhang mit „Zivilen”, d.h. Nichtregierungsorganisationen. Sie wurden in den Radio- und Fernsehrat (der ung. Zensurbehörde) gerufen und durften fleißig mitbestimmen. So saßen alle möglichen eigenartigen Vereine in diesem Rat, der streng und der „bürgerlichen Moral” entsprechend, mit den Fernseh- und Radiosendern umgeht. Die Eingaben, die behandelt werden, beruhen auf Anzeigen von Privaten - das alte Spitzelsystem funktioniert nach wie vor großartig. Eine Bekannte arbeitete dereinst beim Paprika TV, einen Privatsender, der 18 Std. am Tag nur verschiedene Kochsendungen und Dokumentationen über das Essen in verschiedenen Ländern ausstrahlt: Und allen Ernstes erhielten sie mehrere Male Anzeigen. Einmal, weil eine Köchin den Kochlöffel "erotisch abgelutscht” hätte (die Fälle sind auf der Homepage des Radio- und Fernsehrates – ORTT – dokumentiert, ich habe diese Anzeige mit eigenen Augen gelesen); nun also: in diesen Rat hat man auch NGOs berufen, und fortan haben Bogenschützen und BMX-Fahrer, wenn ich mich recht erinnere, waren auch die Philatelisten einmal drinnen, Wächter über die TV-Moral Ungarns gespielt. Wenn das nicht Republik Schilda in seiner pursten Form ist.
2010 wegen überbrandendem Desinteresse der Wähler wieder an der Macht und wegen der Eigenheiten des ungarischen Wahlsystems, obwohl mit nur 53% der Stimmen gewählt, trotzdem im Besitz einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, hat sich Fidesz nur die völlige Veränderung, die Revolution an die Fahnen geheftet - was wohl bedeuten soll, daß sie es selbst auch von 1998-2002 scheiße gemacht haben; eine Medienpolizei hat man schon beschlossen (sie wird auch das Internet kontrollieren), das Staatsbürgergesetz ist großzügiger geworden, das Wahlgesetz wurde dahingehend verändert, dass kleinen Parteien schon gar nicht zur Wahl antreten und großwerden können – jetzt hat man sich in den Kopf gesetzt, die Verfassung neu zu schreiben. Dies geschieht im „System der Nationalen Zusammenarbeit”, d.h. gemeinsam mit den Briefmarkensammlern.
Spott beiseite, denn der ist ab hier nicht mehr notwendig, schauen wir uns an, was die diversen Kirchen und Organisationen alles in der Verfassung sehen wollen:
Ehe, Familie
Die evangelische Kirche will die „monogame Ehe” und eine Erklärung zum Schutz der Familie in der Verfassung wissen; sie hält auch dezidiert fest, dass sie weder die polygame Ehe noch die Ehe Gleichgeschlechtlicher akzeptiert.
Für die ungarische katholische Kirche muss die Institution der Ehe in der Verfassung festgehalten und dadurch gestärkt werden, da sich andere Arten von Partnerschaften extrem ausbreiten. Das Grundgesetz hat auch die Klausel zu enthalten, dass Familien, besonders welche mit vielen Kindern, Anspruch auf Schutz und Obsorge haben.
Die KDNP (Christdemokratische Volkspartei – die sich dafür stark macht, dass auch im ungarischen (staatlichen und privaten) Fernsehen die heilige Institution der Ehe nicht schlecht gemacht werden darf) bat den Nationalen Verband der Großfamilien (NOE) um Stellungnahme: Der Verband besteht darauf, dass neben dem Schutz der Ehe und Familie in der Verfassung auch deklariert wird: Die Ehe ist eine dauerhafte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau, und ihr Zweck ist die Geburt und Erziehung von Kindern.
Weiters soll festgehalten werden, dass der Staat die Familien mit mehr Kindern von den großen finanziellen Lasten befreit. Und auch ein Recht auf Wohnung sollte als Grundrecht bedacht werden.
Wahlrecht für Kinder
NOE hat einen weitern, doch eher erstaunlichen Vorschlag: Es sollte in der neuen Verfassung ein allgemeines Wahlrecht unabhängig vom Alter verankert werden. Das Stimmrecht der Kinder würde bis zur Volljährigkeit von den gesetzlichen Vertretern ausgeübt.
Sonntag
Die Katholiken wollen den Sonntag als arbeitsfreien Tag in der Verfassung verankert wissen; denn laut ihnen hängt der Sonntag mit dem Schutz der Familien und dem Recht der freien Religionsausübung zusammen.
Die „heilige“ Stephanskrone
Mehrere Organisationen sind überzeugt, dass die „Heilige Krone“ in die Verfassung aufgenommen werden müsse: Die ungarische evangelische Kirche würde die Präambel der Verfassung folgendermaßen beginnen: "Mit dem Dank des Volkes für das tausendjährige Ungarn, das von der uralten Krone der ungarischen Könige symbolisiert wird..."
Von der Partei Jobbik wurde der Weltbund der Ungarn hinzugezogen, dieser sieht die Chance zur Wiederherstellung der historischen ungarischen Verfassung, in deren Mittelpunkt die „Heilige Krone“ stand.
Der Batthyány Kreis der Professoren (eine Zusammenballung von rechten Akademikern) meint, dass die Präambel des neuen Grundgesetzes auf die „historische Kontinuität von Ungarns Verfassungsmäßigkeit, die nationale Unabhängigkeit und die lange Tradition der Achtung der Freiheiten des Individuums“ verweisen müsse, und auch auf die „Heilige Krone als Symbol der nationalen Einheit“.
Laut des Nationalen Bürgerlichen Rentnervereins, der von Fidesz um eine Stellungnahme gebeten wurde, muss die neue Verfassung die „Wiederbelebung der Rechtsnachfolge der Freien Verfassung Ungarns, die auf den Idealen der Heiligen Krone aufbaut“, enthalten [was immer das bedeuten mag]. Dementsprechend würde die neue Verfassung die „Freiheit des Staates“ proklamieren und die „Freiheit der Mitglieder der Heiligen Krone“. Ein Mitglied der Heiligen Krone ist ein Mitglied der staatsbildenden ungarischen Nation, egal wo es lebt auf der Welt [oder im Universum], sowie die Mitglieder der staatsbildenden Nationen, wenn sie auf dem Gebiet des Staates der „Heiligen Krone“ leben. In der Stellungnahme wird gesondert darauf hingewiesen, dass jene, die nicht Mitglieder der Heiligen Krone sind, im Staat der Heiligen Krone nur Gäste sind. [In Ungarn gibt es eine Pseudowissenschaft, die sich Wissenschaft der Heiligen Krone nennt. Sie zeitigt Auswüchse wie: Die Krone ist eine Antenne, mit der jener, der sie trägt, kosmische Energie und Weisheit empfängt usf. Für mich ist diese Gastsache, die gesondert erwähnt wird, ganz klar ein Verweis auf die Juden und die Zigeuner, die haben demnach im Karpatenbecken nix verloren.]
Auch der Staatliche Rechnungshof hat sich bemüßigt gefühlt, Vorschläge für die Verfassung einzubringen: „In der neuen Verfassung Ungarns ist es notwendig, auf die Heilige Krone zu verweisen, auf den christlichen Einfluss bei der Herausbildung einer nationalen moralischen Haltung sowie auf die Idee der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.“
Kirchen
Die verschiedenen Kirchen wollen alle auf irgendeine Art Gott in der Verfassung sehen, allein die Juden treten dafür ein, dass festgehalten werden solle, dass es "historische Kirchen" UND andere Glaubensgruppen gibt. Die christlichen Kirchen wollen eine Ausschließlichkeit der „historischen Kirchen“ im neuen Grundgesetz verankert wissen und reden von „Gewissen und Moral“, die durch die Verfassung gestärkt werden sollen.
Staatspräsident
Der Batthyány Kreis der Professoren schlägt vor, den Staatspräsidenten mit einem Vetorecht auszustatten, das viel weit reichender sein sollte als bisher. Er müsste ein Gesetz, das er für verfassungswidrig hält, nicht unterschreiben, auch nicht nach einem Beharrungsbeschluss des Parlaments. [Der Staatspräsident ist ja kein Problem mehr, hat man sich doch den hündisch dienenden Pál Schmitt erwählt, der inzwischen nicht einmal mehr wartet, daß man ihm die Gesetze in seinen Amtssitz zustellt, sondern jede Woche mal zum Unterschreiben im Parlament vorbeischaut.]
Ungarn jenseits der Grenzen, Székler
Die Partei Jobbik forderte den Székler Nationalen Rat zur Stellungnahme auf, dieser ist der Ansicht, dass in der Präambel der Verfassung auf jeden Fall auf das Ungarn des Hl. Stephan hingewiesen werden müsse, auf die Komitate und die Székler Stühle [historische Verwaltungseinheiten]. Er fordert die Macher des Grundgesetzes auf, daß im Text stehen müsse: Die Ungarische Republik übernimmt die Verantwortung für das Schicksal der Ungarn, die außerhalb des Vaterlandes leben, und fördert die Pflege der Beziehung zwischen den Széklern und dem Vaterland.
Gewerkschaften, Interessensvertretungen
Die MSZP [die Sozialisten] ersuchten den Ungarischen Gewerkschaftsbund (MSZOSZ) um Stellungnahme, dieser meinte, daß jene Rechte zum Schutz der Bürger und Arbeitnehmer bzw. deren Vertreter, die jetzt schon in der Verfassung stehen, gewahrt bleiben müßten. Auch solle die neue Verfassung detailliert auf die Verpflichtungen des Staates den Arbeitnehmern gegenüber eingehen, die Rechte der Arbeitnehmer enthalten, die Freiheit der Gewerkschaften garantieren und ein Recht zur Sozialversicherung einführen. Der MSZOSZ tritt auch für ein Recht auf Widerstand ein, ein Recht der Obdachlosen, bei der Schaffung eines Eigenheims unterstützt zu werden, das Recht auf den Schutz der persönlichen Daten in Hinblick auf elektronische Erfassung. Weiters wurde ein Recht auf Information bezüglich Daten von öffentlichem Interesse angedacht, ein Verbot aller paramilitärischen Verbände und ein Verbot des Verleihens und Tragens von Adelstiteln.
Senioren
Der Ungarische Verband der Rentnervereine (NYOSZ) möchte, daß die Verfassung widerspiegelt, daß die ältere Generation ein geschätzter und geachteter Teil der Gesellschaft ist, dem durch positive Diskriminierung geholfen werden muß. Die Interessen der Pensionisten sollten von einem Rat für Seniorenangelegenheiten vertreten werden, und auf jeden Fall muß im Grundgesetz stehen: „Die Älteren sind ein außergewöhnliches Bindemittel für die Verstärkung der gesellschaftlichen Kohäsion."
Nachhaltige Entwicklung
Der Bund der Ungarischen Umweltschützer (MTVSZ) hält für wichtig, dass in der neuen Verfassung festgehalten wird: Die Republik Ungarn will die Ziele einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung verwirklichen. Es sollten auch die Wohlstandswerte, die zur Verwirklichung der Nachhaltigkeit notwendig sind, aufgeführt werden: die Erhaltung der Gesundheit, die gesunde Umwelt, Autonomie, Selbstwert, die Wichtigkeit familiärer Beziehungen, die Achtung des Lebens, der Glaube sowie die Möglichkeit für jeden, natürliche Ressourcen nützen zu können. Der MTVSZ meint weiters, daß die Verfassung enthalten müßte, daß die Naturschätze das gemeinsame Erbe der Menschheit sind, deswegen können sie auch nur von einer Gemeinschaft und nicht von einem einzelnen besessen werden, und sie dürfen auch nur dem Wohl der Gemeinschaft dienen.
Dienstag, 2. November 2010
Vor dem Verfassungsputsch
2010-11-02 09:52
Viktor Orbán hebelt das Verfassungsgericht aus. Es steht seinem Machthunger im Wege. Der Demokratieabbau schreitet rasend voran.
Die ungarische „Wahlkabinen-Revolution" kommt so richtig in Fahrt. Die völkische Eingemeindung der ethnischen Ungarn in den Nachbarländern, die Einführung des Irredenta-Ruch verströmenden Trianon-Tags, der Erlass von Medienknebelungsgesetzen und die Pflicht-Aushängung der „Orbán-Bulle" (siehe dazu das vorangegangene Posting in diesem Blog) bildeten nur den Auftakt. Ende des Vormonats kassierte die Regierung per Parlamentsbeschluss den Pflichtanteil, den drei Millionen Bürger in die privaten Pensionsversicherungen einzahlen - vorerst für 14 Monate, doch Orbán stellte klar, dass er den privaten Pensionsversicherungen in toto grosso den Gashahn abdrehen und das dort angesparte Vermögen der Versicherten dem Staatssäckel einverleiben will. Dass es sich um schlichten Diebstahl handelt, ging aus den Budget-Eckdaten 2011 hervor, die Wirtschaftsminister György Matolcsy am letzten Samstag veröffentlichte - das Geld wird eingesackt, um Orbáns Wirtschaftspolitik zu finanzieren, die Steuersenkungen mit einer Prolongierung des Reformstaus verknüpft.
Doch in dieser Woche geht es erst richtig ans Eingemachte: mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit im Parlament will Orbáns FIDESZ (Bund Junger Demokraten) den Verfassungsgerichtshof entmachten. Dem Höchstgericht sollen alle Zuständigkeiten entzogen werden, die sich auf jene Rechtsmaterien beziehen, die nicht Gegenstand eines Referendums sein können. Nicht, dass es da einen sinnvollen Zusammenhang gäbe - das Verfassungsgericht wacht über die gesamte Rechtsschöpfung, während es nicht möglich ist, per Volksabstimmung die Steuern abzuschaffen oder Freibier für alle zu dekretieren. Die angestrebte Zuständigkeitsbeschneidung läuft aber eben darauf hinaus, dass die Verfassungshüter künftig nicht mehr die Verfassungsmäßigkeit von Steuer-, Zoll- und Sozialversicherungsgesetzen überprüfen dürfen. So etwa die jener neuen Gesetze, die den Menschen ihre privat angesparten Versicherungsanteile wegnehmen. Wie überhaupt in den letzten 20 Jahren das ungarische Verfassungsgericht immer wieder die Sparpakete der diversen links-liberalen Regierungen genau prüfte und Bestimmungen außer Kraft setzte, wenn diese allzu sehr in „erworbene Rechte" eingriffen. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Die entsprechenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen werden diese Woche im Parlament debattiert und voraussichtlich eine Woche später zur Beschlussfassung gelangen.
FIDESZ-Fraktionschef János Lázár, der die Entwürfe als „selbständigen Abgeordnetenantrag" einbrachte, begründete diesen Angriff auf die ungarische Demokratie letzte Woche mit einem Höchstmaß an Zynismus: „Mit der Festigung des Rechtsstaates ist eine derart breit gefasste Zuständigkeit des Verfassungsgerichts heutzutage nicht mehr gerechtfertigt." Zynisch ist dies auch deshalb, weil Lázár diese Bemerkung drei Stunden nach der Verkündung eines Verfassungsgerichtsurteils fallen ließ, welches ein vom FIDESZ beschlossenes Gesetz gekippt hatte. Dieses sah vor, dass Abfertigungen im öffentlichen Dienst - unabhängig von den gesetzlich oder vertraglich bestehenden Ansprüchen - praktisch mit knapp 7.500 Euro zu deckeln wären. Die Verfassungsrichter sahen in der rückwirkenden Anwendbarkeit einen Verstoß gegen das Rechtsstaatprinzip.
Das Gesetz hatte zwei Stoßrichtungen. Zum einen sollte den in der Tat skandalösen Abfertigungen ein Riegel vorgeschoben werden, die die korrupten und gescheiterten Top-Manager von Unternehmen der öffentlichen Hand bei ihrem ruhmlosen Abgang einzustreichen pflegen. Zum anderen will die Regierung Tausende Beamte entlassen - nach einer entsprechenden Gesetzesnovelle können zwar nun Beamte ohne Nennung von Gründen beliebig gefeuert werden, nur dass dies eben bei entsprechenen Abfertigungsansprüchen recht teuer werden kann. Darüber hinaus war das Gesetz so pfuscherhaft formuliert, dass auch einigermaßen besser verdienende Ärzte, Lehrer und Beamte nach ihrer korrekt abgedienten Dienstzeit um berechtigte Ansprüche umgefallen wären. Das Verfassungsgericht wies in seinem Urteil auf all dies hin und legte der Regierung sogar eine „goldene Brücke", wie sie das Gesetz verfassungskonform hätte neu fassen können, ohne dass die grundlegende Intention hätte aufgegeben werden müssen. Lázár, der mit der Stimme Orbáns sprach, zeigte sich unbeeindruckt. Das Abfertigungsdeckelungsgesetz werde „in unveränderter Form neu verabschiedet", kündigte er an.
Es war ohnehin ein abgekartetes Spiel. Orbán und die FIDESZ-Spitze wussten bereits Tage zuvor, dass das Gesetz gekippt würde. Wie das Internet-Portel „origo" herausfand, hatte Orbán selbst die Marschrichtung vorgegeben: sollen die Verfassungsrichter entscheiden, wie sie wollen, wir wollten ihnen eh' schon immer die Zuständigkeit für Entscheidungen dieser Art wegnehmen. Orbán selbst rechtfertigte dieses Vorgehen noch auf populistische Weise: „Es geht nicht darum, das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen zu ändern, sondern jene alten Regeln, die uns behindern." Die demokratische Öffentlichkeit in Ungarn zeigte sich geschockt. András Schiffer, der Chef der Öko-Partei LMP, überwand zum ersten Mal sein Misstrauen gegenüber den Sozialisten (MSZP) und protestierte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem MSZP-Kollegen Attila Mesterházy. Zu gemeinsamen Demonstrationen kann sich die Opposition allerdings (noch) nicht durchringen.
Ein bislang ungewohntes Murren kam sogar aus den FIDESZ-Medien, die ansonsten diszipliniert der Parteilinie folgen. Die Tageszeitung „Magyar Nemzet" bezeichnete den Angriff auf das Verfassungsgericht in einem Kommentar als „nicht glücklich". In der Wochenzeitung „Heti Válasz" - sie hatte auch schon Orbáns Bestellung des servilen Winke-Augusts Pál Schmitt zum Staatspräsidenten zu kritisieren gewagt - geriet der Kolumnist András Stumpf nahezu in Rage: „Dass all dies noch dazu im Namen des Volkes geschieht, ist leider das lächerlichste kommunistische Argument. Ist das, was der FIDESZ macht, egal, was es ist, identisch mit dem Volkswillen...? .... Wenn wir nämlich diese Logik akzeptieren, dann müssen wir auch akzeptieren, dass der FIDESZ unfehlbar ist. Denn die Macht gehört dem Volk, den Volkswillen repräsentieren nicht die Institutionen, sondern die Zweidrittelmehrheit, das heißt also, selbst wenn sich diese irrt, irrt sie sich doch nicht." Stumpf malte das Schreckgespenst einer verlorenen nächsten Wahl und einer Rückkehr Gyurcsánys an die Wand: „Und da wird es dann über ihm keine Kontrolle mehr geben, auch rückwirkend macht er, was er will. Eine schöne Aussicht, nicht wahr?" Innerhalb der FIDESZ-Spitze soll der stellvertretende Ministerpräsident Tibor Navracsics, zugleich auch Minister für Justiz und öffentliche Verwaltung, diese Entwicklung „schlecht aufgenommen" haben.
Die Aushebelung des Verfassungsgerichts hat - vorerst - eine vornehmlich wirtschaftspolitische Stoßrichtung. Die Budgetlage ist, trotz der unter der Vorgängerregierung von Gordon Bajnai eingeleiteten Konsolidierung, angespannt, der wirtschaftspolitische Spielraum eng. Im Wahlkampf hatte Orbán konkrete Aussagen weitgehend vermieden, als Hauptversprechen blieben aber hängen, dass es einerseits „keine neuen Belastungen" für die Bevölkerung, andererseits für die besser verdienende Klientel Steuersenkungen geben werde. Zunächst hatte Orbán noch gehofft, dass er das Budgedefizit statt der für dieses Jahr geplanten 3,8 Prozent des BIP auf sieben oder acht Prozent schnellen lassen könne. Die EU-Kommission, aus der Griechenland-Krise klug geworden, trat dem entschieden entgegen. Auch mit dem Versuch, mittels eines Buchhalter-Tricks die Einzahlungen in die privaten Pensionsversicherungen als Aktivposten im Staatshaushalt erscheinen zu lassen, blitzte Orbán in Brüssel ab. Nach vier Jahren einer hemmungslosen und populistischen „Lügen"-Agitation gegen die sozialistischen Vorgänger Gyurcsány und Bajnai muss sich Orbán in Sachen Wahlversprechen vorsichtig verhalten. Die Steuersenkung, zusammen mit satten Freibeträgen für Kinder, kommt, und augenscheinliche neue Belastungen gibt es vorerst tatsächlich keine - vor allem aber nicht jene Strukturreformen, die Ungarn erst auf den Pfad eines nachhaltigen Wachstums führen würden. Das Geld für das komfortable Weiterwursteln holt sich Orbán schamlos von der privaten Sphäre: Die Banken zahlen pro Jahr knapp 800 Millionen Euro Sondersteuern (in Österreich, dessen BIP pro Kopf das 3,5-fache des ungarischen ausmacht, nimmt der Staat von den Banken unter diesem Titel 500 Millionen Euro), die Energie-, Telekom- und Handelskonzerne berappen 580 Millionen Euro - Belastungen für die Bevölkerung resultieren daraus insofern, als dass diese Unternehmen einen Gutteil dieser Steuerabschöpfungen weitergeben werden, d.h. Entwicklungen zurückstellen, im Kundendienst einsparen werden, usw. Der Zugriff auf 14 Monate private Pensionsversicherungseinzahlungen schwemmt wiederum 1,6 Milliarden Euro in die Staatskasse. Ein mit den regulären Zuständigkeiten ausgestattetes Verfassungsgericht könnte diese Pläne durchkreuzen, denn ihre Verfassungskonformität ist äußerst fraglich. Im FIDESZ scheint man sich dessen schon seit Monaten bewusst zu sein. Für den Außenstehenden erschloss sich nämlich erst im Lichte dieser jüngsten Entwicklung der tiefere Sinn jener Bemerkung des FIDESZ-Vizeobmanns Lajos Kosa aus dem Juni: „Wegen der Zwangslage kann es auch zur Suspendierung gewisser Regeln der wirtschaftspolitischen Verfassungsmäßigkeit kommen."
Die demokratische Öffentlichkeit ahnt aber, dass all dies über die Wirtschaftspolitik hinausweist und - über die Zufriedenstellung der Wähler durch Reformverschleppen und Steuergeschenke hinaus - der Einzementierung von Orbáns Macht dient. „Es ist zu befürchten", schrieb der Rechtssoziologe Zoltán Fleck im Internet-Journal „galamus", „dass das Beispiel der autoritären Machtausübung jene Logik bestärkt, derzufolge die Demokratie nur dann und wann möglich ist, dass lange Modernisierungsperioden auf autoritären Grundlagen basieren. ... Eine Macht, die die Richter nach politischen Kriterien diszipliniert und belohnt, die die Verfassungsinstitutionen nach ihrem eigenen Bild formt, die die checks and balances systematisch abbaut, die die Zweifler am 'großen Konsens' ausgrenzt und die die sozialen Probleme mit dem Strafrecht anpackt, ist natürlich eine diktatorische."
Informanten aus dem FIDESZ berichteten indes gegenüber der oppositionellen Tageszeitung „Népszabadság", dass ein relativ uneuphorischer Orbán jüngst im engen Kreis räsoniert haben soll: „Überleben, zumindest bis 2013. Auch danach wird es nicht einfach, die Wahl 2014 zu gewinnen." Innerhalb des FIDESZ werde es als „unglaublicher Risikofaktor" angesehen, ob bis 2013 tatsächlich ein sechsprozentiges Wirtschaftswachstum in Gang komme. (Wirtschaftsforscher halten die Steuersenkungen ohne Strukturreformen nicht dafür geeignet, ihnen zufolge werde das bei den Besserverdienenden bleibende zusätzliche Geld in den Konsum und damit vor allem in Importe fließen.) Orbán baue aber darauf, dass die - im Prinzip - 2013 auslaufenden Sondersteuern für die Konzerne bis dahin „ihre Rendite bringen" und dass auch die deutsche Wirtschaft - wichtigster Export-Markt für Ungarn - wieder ordentlich anziehen werde. Im übrigen habe sich Orbán stets als „östlicher Typus" empfunden, worunter in seiner Lesart jemand zu verstehen sei, dem die Attribute der Listigkeit, Findigkeit und Kreativität anhaften. Diese wollen wir ihm auch gar nicht absprechen - schade nur, dass ihm der Respekt vor der demokratischen Verfassung, vor demokratischen Institutionen und Prozeduren gänzlich fehlt.
Darauf deuten auch die jüngsten „Ideen" hin, die der eher unbekannte FIDESZ-Abgeordnete Gergely Gulyás neulich ventilierte - gewiss nicht ohne entsprechende „Wegweisung" durch Orbán. Demnach sollen nun jene im Ausland lebenden ethnischen Ungarn, die durch die völkische Eingemeindung die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten werden, nun doch das Wahlrecht in Ungarn erhalten. Unabhängig von der tatsächlichen Zahl der eingebürgerten Fremdwohnsitz-Ungarn und unabhängig von ihrer Wahlaktivität sollen sie - in dem ab 2014 auf 200 Sitze verkleinerten Parlament - „sechs bis acht eigene Mandate" erhalten. Damit ergäbe sich eine flexible Manövriermasse für den FIDESZ, die in vier Jahren je nach Stand der Dinge zum Zünglein an der Waage dafür werden könnte, ob die Rechtspopulisten entweder die Zweidrittel- oder die einfache Regierungsmehrheit bewahren. Diese Art von election engeneering ist nicht ohne Präzedenz. Der kroatische Halb-Despot Franjo Tudjman hatte Anfang der 1990er-Jahre zwöf Sitze im Sabor den „Diaspora-Kroaten" vorbehalten. Orbán war ein großer Bewunderer des 1999 verstorbenen, für Kriegsverbrechen in Bosnien und an den kroatischen Serben mitverantwortlichen Tudjman.
Links:
www.pesterlloyd.net/2010_43/43verfassungsstreit/43verfassungsstreit.html
http://hungarianvoice.wordpress.com/2010/10/27/fidesz-fraktionsvorsitzender-reitet-angriff-auf-das-verfassungsgericht/#comment-145
http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/on-the-road-to-dictatorship.html
http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/who-is-surprised-and-who-is-not.html
(nur ungarisch):
www.es.hu/2010-10-30_nem-szeltolo
www.origo.hu/itthon/20101027-tobb-fideszes-nem-ert-egyet-az-ab-korlatozasaval.html
http://index.hu/belfold/2010/10/29/orban_kiallt_az_alkotmanybirosag_korlatozasa_mellett/?rnd=133
http://mno.hu/portal/744679
http://hetivalasz.hu/jegyzet/alkotmanytalan-koztarsasag-32834/
http://nol.hu/belfold/20101030-solyom_aggalyosnak_tartja_a_helyzetet__schmitt_nem
www.galamus.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=35420:mi-marad-meg&catid=37:csfleckzoltan&Itemid=62
http://nol.hu/belfold/20101029-a_tulelesre_jatszanak_
www.es.hu/2010-10-30_kockazati-felar-8211-ketharmadbol
www.politicalcapital.hu/blog/?p=1937713
Quelle des Artikels: http://www.residenzverlag.at/?m=40&o=1&blg_txt_id=214 (abgerufen am 3. Nov. 2010)
Viktor Orbán hebelt das Verfassungsgericht aus. Es steht seinem Machthunger im Wege. Der Demokratieabbau schreitet rasend voran.
Die ungarische „Wahlkabinen-Revolution" kommt so richtig in Fahrt. Die völkische Eingemeindung der ethnischen Ungarn in den Nachbarländern, die Einführung des Irredenta-Ruch verströmenden Trianon-Tags, der Erlass von Medienknebelungsgesetzen und die Pflicht-Aushängung der „Orbán-Bulle" (siehe dazu das vorangegangene Posting in diesem Blog) bildeten nur den Auftakt. Ende des Vormonats kassierte die Regierung per Parlamentsbeschluss den Pflichtanteil, den drei Millionen Bürger in die privaten Pensionsversicherungen einzahlen - vorerst für 14 Monate, doch Orbán stellte klar, dass er den privaten Pensionsversicherungen in toto grosso den Gashahn abdrehen und das dort angesparte Vermögen der Versicherten dem Staatssäckel einverleiben will. Dass es sich um schlichten Diebstahl handelt, ging aus den Budget-Eckdaten 2011 hervor, die Wirtschaftsminister György Matolcsy am letzten Samstag veröffentlichte - das Geld wird eingesackt, um Orbáns Wirtschaftspolitik zu finanzieren, die Steuersenkungen mit einer Prolongierung des Reformstaus verknüpft.
Doch in dieser Woche geht es erst richtig ans Eingemachte: mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit im Parlament will Orbáns FIDESZ (Bund Junger Demokraten) den Verfassungsgerichtshof entmachten. Dem Höchstgericht sollen alle Zuständigkeiten entzogen werden, die sich auf jene Rechtsmaterien beziehen, die nicht Gegenstand eines Referendums sein können. Nicht, dass es da einen sinnvollen Zusammenhang gäbe - das Verfassungsgericht wacht über die gesamte Rechtsschöpfung, während es nicht möglich ist, per Volksabstimmung die Steuern abzuschaffen oder Freibier für alle zu dekretieren. Die angestrebte Zuständigkeitsbeschneidung läuft aber eben darauf hinaus, dass die Verfassungshüter künftig nicht mehr die Verfassungsmäßigkeit von Steuer-, Zoll- und Sozialversicherungsgesetzen überprüfen dürfen. So etwa die jener neuen Gesetze, die den Menschen ihre privat angesparten Versicherungsanteile wegnehmen. Wie überhaupt in den letzten 20 Jahren das ungarische Verfassungsgericht immer wieder die Sparpakete der diversen links-liberalen Regierungen genau prüfte und Bestimmungen außer Kraft setzte, wenn diese allzu sehr in „erworbene Rechte" eingriffen. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Die entsprechenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen werden diese Woche im Parlament debattiert und voraussichtlich eine Woche später zur Beschlussfassung gelangen.
FIDESZ-Fraktionschef János Lázár, der die Entwürfe als „selbständigen Abgeordnetenantrag" einbrachte, begründete diesen Angriff auf die ungarische Demokratie letzte Woche mit einem Höchstmaß an Zynismus: „Mit der Festigung des Rechtsstaates ist eine derart breit gefasste Zuständigkeit des Verfassungsgerichts heutzutage nicht mehr gerechtfertigt." Zynisch ist dies auch deshalb, weil Lázár diese Bemerkung drei Stunden nach der Verkündung eines Verfassungsgerichtsurteils fallen ließ, welches ein vom FIDESZ beschlossenes Gesetz gekippt hatte. Dieses sah vor, dass Abfertigungen im öffentlichen Dienst - unabhängig von den gesetzlich oder vertraglich bestehenden Ansprüchen - praktisch mit knapp 7.500 Euro zu deckeln wären. Die Verfassungsrichter sahen in der rückwirkenden Anwendbarkeit einen Verstoß gegen das Rechtsstaatprinzip.
Das Gesetz hatte zwei Stoßrichtungen. Zum einen sollte den in der Tat skandalösen Abfertigungen ein Riegel vorgeschoben werden, die die korrupten und gescheiterten Top-Manager von Unternehmen der öffentlichen Hand bei ihrem ruhmlosen Abgang einzustreichen pflegen. Zum anderen will die Regierung Tausende Beamte entlassen - nach einer entsprechenden Gesetzesnovelle können zwar nun Beamte ohne Nennung von Gründen beliebig gefeuert werden, nur dass dies eben bei entsprechenen Abfertigungsansprüchen recht teuer werden kann. Darüber hinaus war das Gesetz so pfuscherhaft formuliert, dass auch einigermaßen besser verdienende Ärzte, Lehrer und Beamte nach ihrer korrekt abgedienten Dienstzeit um berechtigte Ansprüche umgefallen wären. Das Verfassungsgericht wies in seinem Urteil auf all dies hin und legte der Regierung sogar eine „goldene Brücke", wie sie das Gesetz verfassungskonform hätte neu fassen können, ohne dass die grundlegende Intention hätte aufgegeben werden müssen. Lázár, der mit der Stimme Orbáns sprach, zeigte sich unbeeindruckt. Das Abfertigungsdeckelungsgesetz werde „in unveränderter Form neu verabschiedet", kündigte er an.
Es war ohnehin ein abgekartetes Spiel. Orbán und die FIDESZ-Spitze wussten bereits Tage zuvor, dass das Gesetz gekippt würde. Wie das Internet-Portel „origo" herausfand, hatte Orbán selbst die Marschrichtung vorgegeben: sollen die Verfassungsrichter entscheiden, wie sie wollen, wir wollten ihnen eh' schon immer die Zuständigkeit für Entscheidungen dieser Art wegnehmen. Orbán selbst rechtfertigte dieses Vorgehen noch auf populistische Weise: „Es geht nicht darum, das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen zu ändern, sondern jene alten Regeln, die uns behindern." Die demokratische Öffentlichkeit in Ungarn zeigte sich geschockt. András Schiffer, der Chef der Öko-Partei LMP, überwand zum ersten Mal sein Misstrauen gegenüber den Sozialisten (MSZP) und protestierte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem MSZP-Kollegen Attila Mesterházy. Zu gemeinsamen Demonstrationen kann sich die Opposition allerdings (noch) nicht durchringen.
Ein bislang ungewohntes Murren kam sogar aus den FIDESZ-Medien, die ansonsten diszipliniert der Parteilinie folgen. Die Tageszeitung „Magyar Nemzet" bezeichnete den Angriff auf das Verfassungsgericht in einem Kommentar als „nicht glücklich". In der Wochenzeitung „Heti Válasz" - sie hatte auch schon Orbáns Bestellung des servilen Winke-Augusts Pál Schmitt zum Staatspräsidenten zu kritisieren gewagt - geriet der Kolumnist András Stumpf nahezu in Rage: „Dass all dies noch dazu im Namen des Volkes geschieht, ist leider das lächerlichste kommunistische Argument. Ist das, was der FIDESZ macht, egal, was es ist, identisch mit dem Volkswillen...? .... Wenn wir nämlich diese Logik akzeptieren, dann müssen wir auch akzeptieren, dass der FIDESZ unfehlbar ist. Denn die Macht gehört dem Volk, den Volkswillen repräsentieren nicht die Institutionen, sondern die Zweidrittelmehrheit, das heißt also, selbst wenn sich diese irrt, irrt sie sich doch nicht." Stumpf malte das Schreckgespenst einer verlorenen nächsten Wahl und einer Rückkehr Gyurcsánys an die Wand: „Und da wird es dann über ihm keine Kontrolle mehr geben, auch rückwirkend macht er, was er will. Eine schöne Aussicht, nicht wahr?" Innerhalb der FIDESZ-Spitze soll der stellvertretende Ministerpräsident Tibor Navracsics, zugleich auch Minister für Justiz und öffentliche Verwaltung, diese Entwicklung „schlecht aufgenommen" haben.
Die Aushebelung des Verfassungsgerichts hat - vorerst - eine vornehmlich wirtschaftspolitische Stoßrichtung. Die Budgetlage ist, trotz der unter der Vorgängerregierung von Gordon Bajnai eingeleiteten Konsolidierung, angespannt, der wirtschaftspolitische Spielraum eng. Im Wahlkampf hatte Orbán konkrete Aussagen weitgehend vermieden, als Hauptversprechen blieben aber hängen, dass es einerseits „keine neuen Belastungen" für die Bevölkerung, andererseits für die besser verdienende Klientel Steuersenkungen geben werde. Zunächst hatte Orbán noch gehofft, dass er das Budgedefizit statt der für dieses Jahr geplanten 3,8 Prozent des BIP auf sieben oder acht Prozent schnellen lassen könne. Die EU-Kommission, aus der Griechenland-Krise klug geworden, trat dem entschieden entgegen. Auch mit dem Versuch, mittels eines Buchhalter-Tricks die Einzahlungen in die privaten Pensionsversicherungen als Aktivposten im Staatshaushalt erscheinen zu lassen, blitzte Orbán in Brüssel ab. Nach vier Jahren einer hemmungslosen und populistischen „Lügen"-Agitation gegen die sozialistischen Vorgänger Gyurcsány und Bajnai muss sich Orbán in Sachen Wahlversprechen vorsichtig verhalten. Die Steuersenkung, zusammen mit satten Freibeträgen für Kinder, kommt, und augenscheinliche neue Belastungen gibt es vorerst tatsächlich keine - vor allem aber nicht jene Strukturreformen, die Ungarn erst auf den Pfad eines nachhaltigen Wachstums führen würden. Das Geld für das komfortable Weiterwursteln holt sich Orbán schamlos von der privaten Sphäre: Die Banken zahlen pro Jahr knapp 800 Millionen Euro Sondersteuern (in Österreich, dessen BIP pro Kopf das 3,5-fache des ungarischen ausmacht, nimmt der Staat von den Banken unter diesem Titel 500 Millionen Euro), die Energie-, Telekom- und Handelskonzerne berappen 580 Millionen Euro - Belastungen für die Bevölkerung resultieren daraus insofern, als dass diese Unternehmen einen Gutteil dieser Steuerabschöpfungen weitergeben werden, d.h. Entwicklungen zurückstellen, im Kundendienst einsparen werden, usw. Der Zugriff auf 14 Monate private Pensionsversicherungseinzahlungen schwemmt wiederum 1,6 Milliarden Euro in die Staatskasse. Ein mit den regulären Zuständigkeiten ausgestattetes Verfassungsgericht könnte diese Pläne durchkreuzen, denn ihre Verfassungskonformität ist äußerst fraglich. Im FIDESZ scheint man sich dessen schon seit Monaten bewusst zu sein. Für den Außenstehenden erschloss sich nämlich erst im Lichte dieser jüngsten Entwicklung der tiefere Sinn jener Bemerkung des FIDESZ-Vizeobmanns Lajos Kosa aus dem Juni: „Wegen der Zwangslage kann es auch zur Suspendierung gewisser Regeln der wirtschaftspolitischen Verfassungsmäßigkeit kommen."
Die demokratische Öffentlichkeit ahnt aber, dass all dies über die Wirtschaftspolitik hinausweist und - über die Zufriedenstellung der Wähler durch Reformverschleppen und Steuergeschenke hinaus - der Einzementierung von Orbáns Macht dient. „Es ist zu befürchten", schrieb der Rechtssoziologe Zoltán Fleck im Internet-Journal „galamus", „dass das Beispiel der autoritären Machtausübung jene Logik bestärkt, derzufolge die Demokratie nur dann und wann möglich ist, dass lange Modernisierungsperioden auf autoritären Grundlagen basieren. ... Eine Macht, die die Richter nach politischen Kriterien diszipliniert und belohnt, die die Verfassungsinstitutionen nach ihrem eigenen Bild formt, die die checks and balances systematisch abbaut, die die Zweifler am 'großen Konsens' ausgrenzt und die die sozialen Probleme mit dem Strafrecht anpackt, ist natürlich eine diktatorische."
Informanten aus dem FIDESZ berichteten indes gegenüber der oppositionellen Tageszeitung „Népszabadság", dass ein relativ uneuphorischer Orbán jüngst im engen Kreis räsoniert haben soll: „Überleben, zumindest bis 2013. Auch danach wird es nicht einfach, die Wahl 2014 zu gewinnen." Innerhalb des FIDESZ werde es als „unglaublicher Risikofaktor" angesehen, ob bis 2013 tatsächlich ein sechsprozentiges Wirtschaftswachstum in Gang komme. (Wirtschaftsforscher halten die Steuersenkungen ohne Strukturreformen nicht dafür geeignet, ihnen zufolge werde das bei den Besserverdienenden bleibende zusätzliche Geld in den Konsum und damit vor allem in Importe fließen.) Orbán baue aber darauf, dass die - im Prinzip - 2013 auslaufenden Sondersteuern für die Konzerne bis dahin „ihre Rendite bringen" und dass auch die deutsche Wirtschaft - wichtigster Export-Markt für Ungarn - wieder ordentlich anziehen werde. Im übrigen habe sich Orbán stets als „östlicher Typus" empfunden, worunter in seiner Lesart jemand zu verstehen sei, dem die Attribute der Listigkeit, Findigkeit und Kreativität anhaften. Diese wollen wir ihm auch gar nicht absprechen - schade nur, dass ihm der Respekt vor der demokratischen Verfassung, vor demokratischen Institutionen und Prozeduren gänzlich fehlt.
Darauf deuten auch die jüngsten „Ideen" hin, die der eher unbekannte FIDESZ-Abgeordnete Gergely Gulyás neulich ventilierte - gewiss nicht ohne entsprechende „Wegweisung" durch Orbán. Demnach sollen nun jene im Ausland lebenden ethnischen Ungarn, die durch die völkische Eingemeindung die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten werden, nun doch das Wahlrecht in Ungarn erhalten. Unabhängig von der tatsächlichen Zahl der eingebürgerten Fremdwohnsitz-Ungarn und unabhängig von ihrer Wahlaktivität sollen sie - in dem ab 2014 auf 200 Sitze verkleinerten Parlament - „sechs bis acht eigene Mandate" erhalten. Damit ergäbe sich eine flexible Manövriermasse für den FIDESZ, die in vier Jahren je nach Stand der Dinge zum Zünglein an der Waage dafür werden könnte, ob die Rechtspopulisten entweder die Zweidrittel- oder die einfache Regierungsmehrheit bewahren. Diese Art von election engeneering ist nicht ohne Präzedenz. Der kroatische Halb-Despot Franjo Tudjman hatte Anfang der 1990er-Jahre zwöf Sitze im Sabor den „Diaspora-Kroaten" vorbehalten. Orbán war ein großer Bewunderer des 1999 verstorbenen, für Kriegsverbrechen in Bosnien und an den kroatischen Serben mitverantwortlichen Tudjman.
Links:
www.pesterlloyd.net/2010_43/43verfassungsstreit/43verfassungsstreit.html
http://hungarianvoice.wordpress.com/2010/10/27/fidesz-fraktionsvorsitzender-reitet-angriff-auf-das-verfassungsgericht/#comment-145
http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/on-the-road-to-dictatorship.html
http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/who-is-surprised-and-who-is-not.html
(nur ungarisch):
www.es.hu/2010-10-30_nem-szeltolo
www.origo.hu/itthon/20101027-tobb-fideszes-nem-ert-egyet-az-ab-korlatozasaval.html
http://index.hu/belfold/2010/10/29/orban_kiallt_az_alkotmanybirosag_korlatozasa_mellett/?rnd=133
http://mno.hu/portal/744679
http://hetivalasz.hu/jegyzet/alkotmanytalan-koztarsasag-32834/
http://nol.hu/belfold/20101030-solyom_aggalyosnak_tartja_a_helyzetet__schmitt_nem
www.galamus.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=35420:mi-marad-meg&catid=37:csfleckzoltan&Itemid=62
http://nol.hu/belfold/20101029-a_tulelesre_jatszanak_
www.es.hu/2010-10-30_kockazati-felar-8211-ketharmadbol
www.politicalcapital.hu/blog/?p=1937713
Quelle des Artikels: http://www.residenzverlag.at/?m=40&o=1&blg_txt_id=214 (abgerufen am 3. Nov. 2010)
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