Dienstag, 2. November 2010

Vor dem Verfassungsputsch

2010-11-02 09:52
Viktor Orbán hebelt das Verfassungsgericht aus. Es steht seinem Machthunger im Wege. Der Demokratieabbau schreitet rasend voran.

Die ungarische „Wahlkabinen-Revolution" kommt so richtig in Fahrt. Die völkische Eingemeindung der ethnischen Ungarn in den Nachbarländern, die Einführung des Irredenta-Ruch verströmenden Trianon-Tags, der Erlass von Medienknebelungsgesetzen und die Pflicht-Aushängung der „Orbán-Bulle" (siehe dazu das vorangegangene Posting in diesem Blog) bildeten nur den Auftakt. Ende des Vormonats kassierte die Regierung per Parlamentsbeschluss den Pflichtanteil, den drei Millionen Bürger in die privaten Pensionsversicherungen einzahlen - vorerst für 14 Monate, doch Orbán stellte klar, dass er den privaten Pensionsversicherungen in toto grosso den Gashahn abdrehen und das dort angesparte Vermögen der Versicherten dem Staatssäckel einverleiben will. Dass es sich um schlichten Diebstahl handelt, ging aus den Budget-Eckdaten 2011 hervor, die Wirtschaftsminister György Matolcsy am letzten Samstag veröffentlichte - das Geld wird eingesackt, um Orbáns Wirtschaftspolitik zu finanzieren, die Steuersenkungen mit einer Prolongierung des Reformstaus verknüpft.

Doch in dieser Woche geht es erst richtig ans Eingemachte: mit Hilfe der Zweidrittelmehrheit im Parlament will Orbáns FIDESZ (Bund Junger Demokraten) den Verfassungsgerichtshof entmachten. Dem Höchstgericht sollen alle Zuständigkeiten entzogen werden, die sich auf jene Rechtsmaterien beziehen, die nicht Gegenstand eines Referendums sein können. Nicht, dass es da einen sinnvollen Zusammenhang gäbe - das Verfassungsgericht wacht über die gesamte Rechtsschöpfung, während es nicht möglich ist, per Volksabstimmung die Steuern abzuschaffen oder Freibier für alle zu dekretieren. Die angestrebte Zuständigkeitsbeschneidung läuft aber eben darauf hinaus, dass die Verfassungshüter künftig nicht mehr die Verfassungsmäßigkeit von Steuer-, Zoll- und Sozialversicherungsgesetzen überprüfen dürfen. So etwa die jener neuen Gesetze, die den Menschen ihre privat angesparten Versicherungsanteile wegnehmen. Wie überhaupt in den letzten 20 Jahren das ungarische Verfassungsgericht immer wieder die Sparpakete der diversen links-liberalen Regierungen genau prüfte und Bestimmungen außer Kraft setzte, wenn diese allzu sehr in „erworbene Rechte" eingriffen. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Die entsprechenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen werden diese Woche im Parlament debattiert und voraussichtlich eine Woche später zur Beschlussfassung gelangen.

FIDESZ-Fraktionschef János Lázár, der die Entwürfe als „selbständigen Abgeordnetenantrag" einbrachte, begründete diesen Angriff auf die ungarische Demokratie letzte Woche mit einem Höchstmaß an Zynismus: „Mit der Festigung des Rechtsstaates ist eine derart breit gefasste Zuständigkeit des Verfassungsgerichts heutzutage nicht mehr gerechtfertigt." Zynisch ist dies auch deshalb, weil Lázár diese Bemerkung drei Stunden nach der Verkündung eines Verfassungsgerichtsurteils fallen ließ, welches ein vom FIDESZ beschlossenes Gesetz gekippt hatte. Dieses sah vor, dass Abfertigungen im öffentlichen Dienst - unabhängig von den gesetzlich oder vertraglich bestehenden Ansprüchen - praktisch mit knapp 7.500 Euro zu deckeln wären. Die Verfassungsrichter sahen in der rückwirkenden Anwendbarkeit einen Verstoß gegen das Rechtsstaatprinzip.

Das Gesetz hatte zwei Stoßrichtungen. Zum einen sollte den in der Tat skandalösen Abfertigungen ein Riegel vorgeschoben werden, die die korrupten und gescheiterten Top-Manager von Unternehmen der öffentlichen Hand bei ihrem ruhmlosen Abgang einzustreichen pflegen. Zum anderen will die Regierung Tausende Beamte entlassen - nach einer entsprechenden Gesetzesnovelle können zwar nun Beamte ohne Nennung von Gründen beliebig gefeuert werden, nur dass dies eben bei entsprechenen Abfertigungsansprüchen recht teuer werden kann. Darüber hinaus war das Gesetz so pfuscherhaft formuliert, dass auch einigermaßen besser verdienende Ärzte, Lehrer und Beamte nach ihrer korrekt abgedienten Dienstzeit um berechtigte Ansprüche umgefallen wären. Das Verfassungsgericht wies in seinem Urteil auf all dies hin und legte der Regierung sogar eine „goldene Brücke", wie sie das Gesetz verfassungskonform hätte neu fassen können, ohne dass die grundlegende Intention hätte aufgegeben werden müssen. Lázár, der mit der Stimme Orbáns sprach, zeigte sich unbeeindruckt. Das Abfertigungsdeckelungsgesetz werde „in unveränderter Form neu verabschiedet", kündigte er an.

Es war ohnehin ein abgekartetes Spiel. Orbán und die FIDESZ-Spitze wussten bereits Tage zuvor, dass das Gesetz gekippt würde. Wie das Internet-Portel „origo" herausfand, hatte Orbán selbst die Marschrichtung vorgegeben: sollen die Verfassungsrichter entscheiden, wie sie wollen, wir wollten ihnen eh' schon immer die Zuständigkeit für Entscheidungen dieser Art wegnehmen. Orbán selbst rechtfertigte dieses Vorgehen noch auf populistische Weise: „Es geht nicht darum, das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen zu ändern, sondern jene alten Regeln, die uns behindern." Die demokratische Öffentlichkeit in Ungarn zeigte sich geschockt. András Schiffer, der Chef der Öko-Partei LMP, überwand zum ersten Mal sein Misstrauen gegenüber den Sozialisten (MSZP) und protestierte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem MSZP-Kollegen Attila Mesterházy. Zu gemeinsamen Demonstrationen kann sich die Opposition allerdings (noch) nicht durchringen.

Ein bislang ungewohntes Murren kam sogar aus den FIDESZ-Medien, die ansonsten diszipliniert der Parteilinie folgen. Die Tageszeitung „Magyar Nemzet" bezeichnete den Angriff auf das Verfassungsgericht in einem Kommentar als „nicht glücklich". In der Wochenzeitung „Heti Válasz" - sie hatte auch schon Orbáns Bestellung des servilen Winke-Augusts Pál Schmitt zum Staatspräsidenten zu kritisieren gewagt - geriet der Kolumnist András Stumpf nahezu in Rage: „Dass all dies noch dazu im Namen des Volkes geschieht, ist leider das lächerlichste kommunistische Argument. Ist das, was der FIDESZ macht, egal, was es ist, identisch mit dem Volkswillen...? .... Wenn wir nämlich diese Logik akzeptieren, dann müssen wir auch akzeptieren, dass der FIDESZ unfehlbar ist. Denn die Macht gehört dem Volk, den Volkswillen repräsentieren nicht die Institutionen, sondern die Zweidrittelmehrheit, das heißt also, selbst wenn sich diese irrt, irrt sie sich doch nicht." Stumpf malte das Schreckgespenst einer verlorenen nächsten Wahl und einer Rückkehr Gyurcsánys an die Wand: „Und da wird es dann über ihm keine Kontrolle mehr geben, auch rückwirkend macht er, was er will. Eine schöne Aussicht, nicht wahr?" Innerhalb der FIDESZ-Spitze soll der stellvertretende Ministerpräsident Tibor Navracsics, zugleich auch Minister für Justiz und öffentliche Verwaltung, diese Entwicklung „schlecht aufgenommen" haben.

Die Aushebelung des Verfassungsgerichts hat - vorerst - eine vornehmlich wirtschaftspolitische Stoßrichtung. Die Budgetlage ist, trotz der unter der Vorgängerregierung von Gordon Bajnai eingeleiteten Konsolidierung, angespannt, der wirtschaftspolitische Spielraum eng. Im Wahlkampf hatte Orbán konkrete Aussagen weitgehend vermieden, als Hauptversprechen blieben aber hängen, dass es einerseits „keine neuen Belastungen" für die Bevölkerung, andererseits für die besser verdienende Klientel Steuersenkungen geben werde. Zunächst hatte Orbán noch gehofft, dass er das Budgedefizit statt der für dieses Jahr geplanten 3,8 Prozent des BIP auf sieben oder acht Prozent schnellen lassen könne. Die EU-Kommission, aus der Griechenland-Krise klug geworden, trat dem entschieden entgegen. Auch mit dem Versuch, mittels eines Buchhalter-Tricks die Einzahlungen in die privaten Pensionsversicherungen als Aktivposten im Staatshaushalt erscheinen zu lassen, blitzte Orbán in Brüssel ab. Nach vier Jahren einer hemmungslosen und populistischen „Lügen"-Agitation gegen die sozialistischen Vorgänger Gyurcsány und Bajnai muss sich Orbán in Sachen Wahlversprechen vorsichtig verhalten. Die Steuersenkung, zusammen mit satten Freibeträgen für Kinder, kommt, und augenscheinliche neue Belastungen gibt es vorerst tatsächlich keine - vor allem aber nicht jene Strukturreformen, die Ungarn erst auf den Pfad eines nachhaltigen Wachstums führen würden. Das Geld für das komfortable Weiterwursteln holt sich Orbán schamlos von der privaten Sphäre: Die Banken zahlen pro Jahr knapp 800 Millionen Euro Sondersteuern (in Österreich, dessen BIP pro Kopf das 3,5-fache des ungarischen ausmacht, nimmt der Staat von den Banken unter diesem Titel 500 Millionen Euro), die Energie-, Telekom- und Handelskonzerne berappen 580 Millionen Euro - Belastungen für die Bevölkerung resultieren daraus insofern, als dass diese Unternehmen einen Gutteil dieser Steuerabschöpfungen weitergeben werden, d.h. Entwicklungen zurückstellen, im Kundendienst einsparen werden, usw. Der Zugriff auf 14 Monate private Pensionsversicherungseinzahlungen schwemmt wiederum 1,6 Milliarden Euro in die Staatskasse. Ein mit den regulären Zuständigkeiten ausgestattetes Verfassungsgericht könnte diese Pläne durchkreuzen, denn ihre Verfassungskonformität ist äußerst fraglich. Im FIDESZ scheint man sich dessen schon seit Monaten bewusst zu sein. Für den Außenstehenden erschloss sich nämlich erst im Lichte dieser jüngsten Entwicklung der tiefere Sinn jener Bemerkung des FIDESZ-Vizeobmanns Lajos Kosa aus dem Juni: „Wegen der Zwangslage kann es auch zur Suspendierung gewisser Regeln der wirtschaftspolitischen Verfassungsmäßigkeit kommen."

Die demokratische Öffentlichkeit ahnt aber, dass all dies über die Wirtschaftspolitik hinausweist und - über die Zufriedenstellung der Wähler durch Reformverschleppen und Steuergeschenke hinaus - der Einzementierung von Orbáns Macht dient. „Es ist zu befürchten", schrieb der Rechtssoziologe Zoltán Fleck im Internet-Journal „galamus", „dass das Beispiel der autoritären Machtausübung jene Logik bestärkt, derzufolge die Demokratie nur dann und wann möglich ist, dass lange Modernisierungsperioden auf autoritären Grundlagen basieren. ... Eine Macht, die die Richter nach politischen Kriterien diszipliniert und belohnt, die die Verfassungsinstitutionen nach ihrem eigenen Bild formt, die die checks and balances systematisch abbaut, die die Zweifler am 'großen Konsens' ausgrenzt und die die sozialen Probleme mit dem Strafrecht anpackt, ist natürlich eine diktatorische."

Informanten aus dem FIDESZ berichteten indes gegenüber der oppositionellen Tageszeitung „Népszabadság", dass ein relativ uneuphorischer Orbán jüngst im engen Kreis räsoniert haben soll: „Überleben, zumindest bis 2013. Auch danach wird es nicht einfach, die Wahl 2014 zu gewinnen." Innerhalb des FIDESZ werde es als „unglaublicher Risikofaktor" angesehen, ob bis 2013 tatsächlich ein sechsprozentiges Wirtschaftswachstum in Gang komme. (Wirtschaftsforscher halten die Steuersenkungen ohne Strukturreformen nicht dafür geeignet, ihnen zufolge werde das bei den Besserverdienenden bleibende zusätzliche Geld in den Konsum und damit vor allem in Importe fließen.) Orbán baue aber darauf, dass die - im Prinzip - 2013 auslaufenden Sondersteuern für die Konzerne bis dahin „ihre Rendite bringen" und dass auch die deutsche Wirtschaft - wichtigster Export-Markt für Ungarn - wieder ordentlich anziehen werde. Im übrigen habe sich Orbán stets als „östlicher Typus" empfunden, worunter in seiner Lesart jemand zu verstehen sei, dem die Attribute der Listigkeit, Findigkeit und Kreativität anhaften. Diese wollen wir ihm auch gar nicht absprechen - schade nur, dass ihm der Respekt vor der demokratischen Verfassung, vor demokratischen Institutionen und Prozeduren gänzlich fehlt.

Darauf deuten auch die jüngsten „Ideen" hin, die der eher unbekannte FIDESZ-Abgeordnete Gergely Gulyás neulich ventilierte - gewiss nicht ohne entsprechende „Wegweisung" durch Orbán. Demnach sollen nun jene im Ausland lebenden ethnischen Ungarn, die durch die völkische Eingemeindung die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten werden, nun doch das Wahlrecht in Ungarn erhalten. Unabhängig von der tatsächlichen Zahl der eingebürgerten Fremdwohnsitz-Ungarn und unabhängig von ihrer Wahlaktivität sollen sie - in dem ab 2014 auf 200 Sitze verkleinerten Parlament - „sechs bis acht eigene Mandate" erhalten. Damit ergäbe sich eine flexible Manövriermasse für den FIDESZ, die in vier Jahren je nach Stand der Dinge zum Zünglein an der Waage dafür werden könnte, ob die Rechtspopulisten entweder die Zweidrittel- oder die einfache Regierungsmehrheit bewahren. Diese Art von election engeneering ist nicht ohne Präzedenz. Der kroatische Halb-Despot Franjo Tudjman hatte Anfang der 1990er-Jahre zwöf Sitze im Sabor den „Diaspora-Kroaten" vorbehalten. Orbán war ein großer Bewunderer des 1999 verstorbenen, für Kriegsverbrechen in Bosnien und an den kroatischen Serben mitverantwortlichen Tudjman.



Links:

www.pesterlloyd.net/2010_43/43verfassungsstreit/43verfassungsstreit.html

http://hungarianvoice.wordpress.com/2010/10/27/fidesz-fraktionsvorsitzender-reitet-angriff-auf-das-verfassungsgericht/#comment-145

http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/on-the-road-to-dictatorship.html

http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2010/10/who-is-surprised-and-who-is-not.html

(nur ungarisch):

www.es.hu/2010-10-30_nem-szeltolo

www.origo.hu/itthon/20101027-tobb-fideszes-nem-ert-egyet-az-ab-korlatozasaval.html

http://index.hu/belfold/2010/10/29/orban_kiallt_az_alkotmanybirosag_korlatozasa_mellett/?rnd=133

http://mno.hu/portal/744679

http://hetivalasz.hu/jegyzet/alkotmanytalan-koztarsasag-32834/

http://nol.hu/belfold/20101030-solyom_aggalyosnak_tartja_a_helyzetet__schmitt_nem

www.galamus.hu/index.php?option=com_content&view=article&id=35420:mi-marad-meg&catid=37:csfleckzoltan&Itemid=62

http://nol.hu/belfold/20101029-a_tulelesre_jatszanak_

www.es.hu/2010-10-30_kockazati-felar-8211-ketharmadbol

www.politicalcapital.hu/blog/?p=1937713


Quelle des Artikels: http://www.residenzverlag.at/?m=40&o=1&blg_txt_id=214 (abgerufen am 3. Nov. 2010)

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