Freitag, 1. Mai 2009

Mein erstes Schragl

von Radek Knapp

So leicht diese Staatsgrenze zu überschreiten war, so verhängnisvoll war die nächste: Der Übergang von der slawischen Sprache in die germanische.

Man sagt, je mehr Grenzen es gibt, auf die ein Mensch im Laufe seines Lebens stößt, desto besser für ihn. In diesem Fall hatte ich es wirklich gut. Als ich auf die erste ernstzunehmende Grenze in meinem Leben stieß, war ich erst zwölf. Es war gleich eine Staatsgrenze. Als wir in Drasenhofen vor dem rotweißroten Schranken stehengeblieben waren, kamen aus dem Zollhaus ein paar grimmig dreinsehende Männer heraus, an deren Gürtel echte Pistolen hingen. Der erste Österreicher, den ich also im Leben sah, war bewaffnet. Glücklicherweise wird nie so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Als die Zöllner unsere Pässe zu studieren begannen, studierte ich im Gegenzug ihre Pistolen. Beim genaueren Hinsehen sah man, dass sie nicht oft verwendet wurden. Der Staub hatte sich in die Griffkolben bereits hineingefressen, und bei einem Zöllner wirkte die Waffe, als wäre sie mit dem Futteral zusammengewachsen. Am Ende der Kontrolle brachte sogar einer der Zöllner eine Grimasse zusammen, die man durchaus als ein Lächeln auslegen konnte.

So leicht jedoch diese Grenze zu überschreiten war, so verhängnisvoll war die nächste: Der Übergang von der slawischen Sprache in die germanische. Deutsch zu lernen war für einen Polen sowieso nie ein Vergnügen. Wenn man noch dazu zwölfjährig war, war das Deutsche nicht nur ein kantiges, raues Kauderwelsch, sondern auch noch die Sprache des Feindes. Bis heute flimmert über die polnischen Fernsehkanäle eine Kriegsfilmserie, die ich als Zwölfjähriger vergötterte. Sie trägt den auf Deutsch dämlich klingenden Titel Vier Panzerfahrer und ein Hund und spielte während des Zweiten Weltkrieges. Wenn die Polen außer Papst Johannes II. und dem Schispringer Adam Malysz Helden hatten, dann diese wackeren Panzerfahrer.

Diese vier Soldaten, die sich niemals wuschen, vollbrachten ein militärisches Wunder nach dem anderen. Sie besaßen einen Panzer russischer Bauart, den sie erstaunlich selten abfeuerten und in dem sie durch Dutzende Folgen Richtung Berlin rollten, wo sie eines Tages auf dem Reichstag die polnischen Fahne hissen sollten. Sie hätten es niemals ohne Scharik, ihren Hund, geschafft. Er hatte die Gabe, eine deutsche Wehrmachtsuniform auf einen Kilometer gegen den Wind zu riechen, wobei die Tatsache, ein deutscher Schäferhund zu sein, ihm sicher dabei half. Und zweitens besaßen die Panzerfahrer ausgezeichnete Deutschkenntnisse, die sich in zwei Sätzen zusammenfassen lassen: Der erste Satz ging: "Hände hoch, oder ich schieße" und der zweite: "Wo ist der Sturmbannführer Stettke?"

Mit diesen beiden Sätzen kam ich interessanterweise in Wien das erste halbe Jahr erstaunlich gut über die Runden. Aber spätestens als ich in die Pubertät kam und mich für die Mädchen zu interessieren begann, wurde klar, dass ich damit nicht weit kommen würde.

In Wien begriff ich aber, dass mein Problem nicht nur im Erlernen der deutschen Sprache bestand, sondern darin, dass man in Wien gar nicht Deutsch sprach. Ich werde nie vergessen, als ich mich einmal in ein Gasthaus in Ottakring verirrte und gleich an der Schwelle den mysteriösen Satz hörte: "Sprüh a Wolkn!"

An den Gesichtern, die diesen Satz gerade fallen ließen, erkannte ich eines. Es war keine Aufforderung, eine Wolke mit einer Spraydose zu bearbeiten, sondern das Lokal recht flott wieder zu verlassen. Von da an staunte ich, wie viele Ausdrücke es in dieser traditionell gastfreundlichen Stadt gab, die einen zum Sich-Entfernen auffordern.

Zum Beispiel "Schlag a Wöhn". Ins Deutsche übersetzt "Schlag eine Welle" bedeutete das Gleiche wie eine Wolke sprühen. Eine "Welle nicht zu schlagen" wäre sehr töricht, sollte diese Aufforderung im Bezirk Favoriten ausgesprochen worden sein. Stark im Kommen ist übrigens wieder das gute alte: "Hau di iba d’Heisa".

Wahrscheinlich, weil es so arabisch klingt. Da kam mir ein "Moch an Servas" dagegen eigentlich schon recht elegant rüber. Ganz zu schweigen von solchen Evergreens wie "Schleich di", "Drah di" oder "Geh bodn".

Hau di iba d’Heisa

Dass das Wienerische sich viele Wörter aus slawischen Sprachen geliehen hat, war nicht wirklich ein Trost für mich. Wie sollte ich zum Beispiel wissen, dass das wienerische "Tschopperl" vom tschechischen Wort èapek, also Storch, stammt. Gemeint war ein gutmütiger geistig minderbemittelter Bürger, auch Trottel genannt. Ich wurde zum Beispiel so lange als "Tschopperl" bezeichnet, bis ich es mir endlich gemerkt hatte.

Viel attraktiver erschien mir dafür der Ausdruck auf "Lepschi" gehen, was bedeutete "einen Aufriss machen". Es kam auch vom slawischen Wort "lepsi", was so viel wie "besser" heißt und damit zu verstehen gab, dass Fremdgehen nicht unbedingt gleich so schlecht sein muss, wie die Leute sagen.

Am bequemsten hatten es natürlich wieder mal die Italiener. Aus dem Italienischen wurden nämlich die interessantesten Wiener Ausdrücke ausgeliehen, was auch durchaus sinnvoll war. So kamen die Italiener, die ja nie eine Fremdsprache beherrschen, in den Genuss, wenigstens stellenweise Wienerisch zu verstehen.

"Gspusi" bedeutet auf wienerisch eine Affäre und kommt von "sposa", das italienische Wort für Verlobte. "Büsln" kommt aus dem italienischen "pisolare" – ein Nickerchen machen. Und das Wort "Tschick" kommt von cicca, was einen Zigarettenstummel umschreibt. Somit konnte ich den ersten Satz auf Wienerisch bauen, den Italiener nicht nur verstehen, sondern auch sicherlich gutheißen würden: "Zuerst kleine Gspusi, dann bissi büsln und danach Tschick." Wann das Wienerische entstand, konnte mir allerdings kein Wiener genau sagen, aber dafür wurde mir schnell klar, warum man es erfand. Der Wiener hat den Wiener Dialekt deshalb erfunden, damit er sofort jeden Nichtwiener entlarven kann. So mancher Akzentkünstler, und darunter waren linguistische Genies, die mühelos das Französische, Portugiesische und sogar Suaheli beherrschten, musste vor dem Wienerischen passen. Es ließ sich einfach nicht nachmachen, es sei denn, man hatte das Privileg, in einem der 23 Wiener Bezirke geboren worden zu sein. Aber sogar hier gab es zwischen den Bezirken feine Abstufungen. Einige unterschieden sich durch bestimmten Tonfall, vor allem aber durch zahlreiche Ausdrücke, die es im Laufe der Jahrhunderte nicht geschafft hatten, den Dunstkreis von tausend Metern zu überbrücken. Mit einem Wort: In Wien herrschte eine Dialektvielfalt wie im Kongobecken. Es waren zwar nur drei Kilometer von Favoriten bis nach Meidling, fünf Minuten mit der U-Bahn, aber es lagen Lichtjahre zwischen dem Meidlinger L und dem Favoritener Slang. Im sechzehnten Bezirk haben sich einige Unterdialekte ausgebildet, die nur noch in wenigen Hinterhöfen gesprochen werden. Sie werden offensichtlich in direkter Linie vom Vater auf den Sohn vererbt und sterben offenbar erst dann aus, wenn die Sprösse des 16. Bezirks beschließen, einen kollektiven Selbstmord zu begehen, indem sie in ihren getunten und frisierten BMW Turbos gegen das Haus des Meeres fahren, das bekanntlich über sehr solide Außenwände verfügt.

Zum Schluss kann ich selber aus meinem unerschöpflichen Erfahrungsschatz beisteuern, wie folgenschwer die Unkenntnis des Dialektes sein kann. Mit 20 Jahren arbeitete ich in einer Druckerei, und meine Aufgabe bestand darin, Zeitungen zu bündeln. Ich steckte sie in eine Maschine, aus der ein Faden herausschoss. Wenn man sich verschaut hatte, schoss der Faden blitzschnell hinaus und schnürte nicht nur das Zeitungsbündel, sondern auch die beiden Hände, mit denen man es hielt, dazu. Dann musste man sich an einen Arbeitskollegen wenden, der einen kopfschüttelnd mit einem "Jessas, Jessas" und einer Schere befreite. Auf diese Weise arbeitete ich ein paar Wochen in der Halle A und war ganz verblüfft, so viel Geld für so eine spannende Arbeit zu bekommen. Aber dann passierte das Unglück. Eines Tages sagte mein Chef, ich solle in die Halle B gehen und ein "Schragl" holen. Auf die Frage, was ein "Schragl" ist, erntete ich den Blick eines Mannes, der noch nie eine blödere Frage gehört hatte. "Ein Schragl ist ein Schragl", erklärte er mir. Ich verließ zum ersten Mal die traute Halle A und begab mich in die Halle B, wo ich nach einem "Schragl" verlangte. Man gab mir eine Art Regal auf Rädern. Glücklich kehrte ich in die Halle A zurück und übergab es meinem Chef. Der sah mich entgeistert an und sagte: "Wos host ma brocht? Des is a Holztischerl und ka Schragl." Ich schüttelte den Kopf "Das ist ganz gewiss ein Schragl". Der Chef platzte heraus: "I orbeit schon 20 Jahre do, und du wirst mir net sagen, wos a Schragl is, kloar?"

Ich trottete zurück in die Halle B und machte kurzen Prozess "Das ist ein Holztischerl", ließ ich in der anderen Halle verlautbaren. Dort hörte ich einen Spruch, der mir bekannt vorkam: "I arbeit schon 20 Jahre do und weiß, was a Holztischerl ist. Des is a Schragl." "Aber nicht in der Halle A", gab ich zu bedenken.

Ich wurde an diesem Vormittag mehrmals wie ein Pingpongball hin und hergeschickt, bis ich das delikate linguistische Gleichgewicht zwischen Halle A und B derart durcheinandergebracht hatte, dass man es nur durch eine radikale Maßnahme wiederherstellen konnte. Ich wurde am nächsten Tag entlassen. Ich bin mir bis heute noch nicht ganz sicher, was ein "Schragl" ist. (Radek Knapp)

Zur Person:
Radek Knapp ist österreichischer Schriftsteller. Er wuchs bei seinen Großeltern in Polen auf und folgte 1976 seiner Mutter nach Wien. Der Durchbruch als Autor gelang ihm 1994 mit seinem Erzählband "Franio", er erhielt dafür den Aspekte-Literaturpreis. 2003 erschien sein Roman "Papiertiger" und zuletzt seine "Gebrauchsanweisung für Polen" (beide im Piper Verlag).

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