Sonntag, 8. November 2009

"Ich schreibe keine Holocaust-Literatur, ich schreibe Romane"

Von Tilman Krause
Ein Gespräch mit dem Literaturnobel- und WELT-Preisträger Imre Kertész über seine Wahlheimat Berlin, seine Auffassung von Autorschaft und seine Erfahrungen mit dem Totalitarismus


Die Welt: Verehrter, lieber Herr Kertész, am 9. November werden Sie 80 Jahre alt, aber das schönste Geschenk zu diesem Geburtstag bekommen nicht Sie, sondern jemand anderes.

Imre Kertész: Ach ja? Wer denn?

Die Welt: Die Stadt Berlin! Weil Sie immer noch in ihren Mauern leben.

Kertész Aber was reden Sie da - ich bin ein Berliner!

Die Welt: Komisch, irgendwo habe ich gelesen, Sie stammten aus Budapest...

Kertész: Lieber, Sie lesen zuviel. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Ich bin ein Großstädter, bin es immer gewesen. Ein Großstädter gehört nicht nach Budapest. Die Stadt ist ja vollkommen balkanisiert. Ein Großstädter gehört nach Berlin!

Die Welt: Was fasziniert Sie hier bloß so?

Kertész: Da könnte ich Ihnen vieles nennen. Lassen Sie mich zwei Dinge hervorheben. Berlin ist die musikalischste Metropole der Welt. Das ist ein entscheidender Grund für mich, hier zu leben, seit acht Jahren nunmehr. Als ich noch in Budapest wohnte, musste ich mit meinem kleinen Transistorradio immer ins Badezimmer gehen, wenn ich Musik hören wollte. Nur da hatte man einen guten Empfang. Hier haben wir drei Opernhäuser, die ich jederzeit besuchen kann, dazu die großartigen Philharmoniker. Für einen Musikfan sind das paradiesische Zustände. Und dann die friedliche, urbane Atmosphäre der Stadt. Gerade hier in Charlottenburg. Sowie es einigermaßen schön ist, ziehen die Leute auf die Straße, sitzen auf den Kaffeehaus-Terrassen. Dort lesen sie, essen und trinken sie, flirten sie. Im Sommer ist doch Berlin eine einzige öffentliche Wellness-Landschaft, was sage ich, eine Wohlfühl-Sauna. Jeder tut, was er will, und zwar auf die selbstverständlichste Art von der Welt. Es gibt keinen Stress, keine Aggression. Die Menschen sind freundlich zueinander, sind freundlich zu mir, so habe ich es vom ersten Moment an erlebt, und so ist es bis heute geblieben.

Die Welt: Und da kann Budapest nicht mithalten? Als Sie mir die Stadt vor zehn Jahren gezeigt haben, ging es dort doch auch bunt und fröhlich zu.

Kertész: Das hat sich Ihnen als Tourist so dargestellt. Das war aber nur Fassade. Ich bin gerade wieder zehn Tage dagewesen. Die Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert. Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen. Die alten Laster der Ungarn, ihre Verlogenheit und ihr Hang zum Verdrängen, gedeihen wie eh und je. Ungarn im Krieg, Ungarn und der Faschismus, Ungarn und der Sozialismus: Nichts wird aufgearbeitet, alles wird zugeschminkt mit Schönfärberei.

Die Welt: Sie sind in Budapest geboren, Sie haben dort ihre Kindheit verbracht, sind nach der Befreiung von Buchenwald aus dem KZ dorthin zurückgekehrt. Hier entstanden ihre wichtigsten Werke, für die Sie 2002 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurden, allen voran das Jahrhundert-Buch "Roman eines Schicksallosen", 1975 nach zwölfjähriger Arbeit fertiggestellt und veröffentlicht. Gibt es an Ihrem Land mit seiner ungemein reichen literarischen Landschaft denn rein gar nichts, dem Sie sich verbunden fühlen?

Kertész: Ich bin ein Produkt der europäischen Kultur, ein Décadent, wenn Sie so wollen, ein Entwurzelter, stempeln Sie mich nicht zum Ungarn. Es reicht, dass Ihre Landsleute mich zum Juden gemacht haben. Rassische, nationale Zugehörigkeiten gelten nicht für mich. Und um auf Ihre reiche ungarische Literaturlandschaft zu kommen, ich werde Ihnen etwas verraten: Während all der sozialistischen Jahre habe ich kein einziges der staatlich genehmigten ungarischen Bücher gelesen. Mein Geschmack hat das einfach nicht gefressen. Immer, wenn ich es versucht habe, kippte mein Magen um. Natürlich gibt es ein paar ungarische Autoren, die ich sehr verehre, wunderbare Sprachkünstler, dekadente Spielernaturen, deren Namen Ihnen in Deutschland gar nichts sagen werden: Gyula Krudy zum Beispiel, der von 1878 bis 1933 lebte, oder Dezsö Szomory, ein Zeitgenosse Krudys. Beide waren übrigens auch gleichzeitig großartige Essayisten...

Die Welt: Wie Sándor Márai, den Sie auch gelten lassen?

Kertész: : Wie Sándor Márai, dessen Tagebücher ich für ganz vorzüglich halte. Seine Romane weniger, sie sind nicht auf der Höhe der Moderne. In Ungarn hat es die literarische Moderne nicht gegeben. Erst lange nach dem Krieg haben Peter Nádas und ich sie nachgeholt, dann kam schon die Postmoderne mit Peter Esterházy. Aber als ich jung war, als ich ein Schriftsteller wurde, habe ich die europäische Literatur gelesen, vor allem die deutsche.

Die Welt: Wer hat Sie besonders beeinflusst?

Kertész: Thomas Mann, keine Frage! 1954 hat Georg Lukácz die ersten Thomas-Mann-Texte nach dem Krieg herausgebracht, die ich verschlang. Das hat mein Leben verändert, "Tod in Venedig", "Wälsungenblut"...

Die Welt: Ausgerechnet "Wälsungenblut" mit seinen antijüdischen Karikaturen...

Kertész: Mich interessieren nicht Gesinnungen, mich interessiert Ästhetik. Und Hand aufs Herz: neureiche, protzige Juden, wie Thomas Mann Sie in "Wälsungenblut" um 1910 darstellte, gab es nun mal auch. Warum soll man das dem Autor vorwerfen?

Die Welt: Nach Auschwitz kann man das vielleicht nicht mehr so unbefangen goutieren.

Kertész: Das mag sein. Aber mich stört es nicht. Sie wissen, ich denke sehr eigenwillig über die Shoah. Ich bin, wie Jean Améry, ein nichtjüdischer Jude, da kommen wir wieder zu den kollektiven Identitäten. Die liegen mir nicht. Ich mag auch keine Volksmusik. Klezmer ist langweilig.

Die Welt: Und doch haben Sie in vielen Büchern über den Holocaust geschrieben.

Kertész: Ich habe über den Holocaust geschrieben, weil ich diese einzigartige Erfahrung, diese für das 20. Jahrhundert so zentrale Erfahrung machen musste, machen konnte - weil ich in Auschwitz war und in Buchenwald. Bedenken Sie: was für ein Kapital! Aber ich habe keine Holocaust-Literatur geschrieben, ich habe Romane geschrieben! Ich bin ein professioneller Schriftsteller. Ich habe mich an jedem gelungenen Satz, an jedem treffenden Wort gefreut, das mir geglückt ist. Mein Ehrgeiz war immer und vor allem anderen ein künstlerischer.

Die Welt: Liegt es daran, dass Sie über die Vernichtung der Juden nicht moralisch schreiben?

Kertész: Unter anderem liegt es auch daran. Und noch etwas kommt hinzu: Man darf die versuchte Vernichtung, man darf den rassischen Antisemitismus des 20. Jahrhundert nicht isoliert sehen. Man muss ihn im Zusammenhang der großen Epochenerfahrung sehen, und die ist der Totalitarismus. Und der Totalitarismus war mit dem Ende der Nazi-Herrschaft nicht vorüber. An einem Land wie Ungarn sehen Sie überdies, dass auch der Antisemitismus mit den Nazis nicht unterging.

Die Welt: Wer Ihre Bücher liest, nicht nur den "Roman eines Schicksallosen", sondern dessen Fortsetzung, den Roman "Fiasko", oder Ihren letzten Roman, "Liquidation", dem fällt sofort der sehr spezielle Kertész-Ton auf, etwas Ironisches, Spöttisches, Sarkastisches. Haben Sie sich diesen Stil mühsam erarbeitet, oder gilt hier die Devise "Le style c'est l'homme"?

Kertész: Ja, das ist tatsächlich meine Natur.

Die Welt: Wir sprachen eingangs von Geburtstagsgeschenken. Gibt es etwas, das Sie sich zu Ihrem 80. Geburtstag ganz besonders wünschen?

Kertész: Ich wünsche mir, was ich auch allen anderen Menschen wünsche: Frieden und Kultur.

Quelle: www.welt.de

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