Mittwoch, 18. November 2009

In Ungarn müssen sich Juden wieder fürchten

Das Interview mit Imre Kertész auf WELT ONLINE sorgt für Aufregung. Von der Rechten wird der Literaturnobelpreisträger scharf attackiert. Doch der Antisemitismus in Ungarn wächst besorgniserregend. Publizist Paul Lendvai erklärt, warum sogar "demokratische" Medien die Vernichtung linksliberaler Schriften fordern.

Mit seinem offenherzigen Interview hat der 80-jährige Literaturnobelpreisträger Imre Kertész – übrigens nicht zum ersten Mal – in das Wespennest des ungarischen Antisemitismus' gestochen. So wie seinerzeit Karl Kraus und Thomas Bernhard das österreichische Bürgertum mit ihrer radikalen Wortwahl schockiert hatten, so lösten seine sarkastischen Bemerkungen im rechten Lager einen Sturm der Entrüstung und selbst bei vielen Liberalen Kopfschütteln aus.

Der herausragende Literaturkritiker Sandor Radnoti zog mit dem Titel "Der Beleidigte" die Schlussfolgerung, Kertész sei mit seiner unbarmherzigen Satire schmerzlich, unmissverständlich und charakteristisch - ungarisch!

Es geht bei dem jüngsten Streit um Kertész nicht wirklich um seine abfälligen Bemerkungen über das Ungarn von heute. Der Schriftsteller, der alle seine Bücher auf Ungarisch schrieb, wurde vor dem 2002 zugesprochenen Nobelpreis in seinem Land kaum wahrgenommen. Da er sich in seinem großen "Roman eines Schicksallosen" und in anderen Werken in erster Linie mit der Erfahrung von Verfolgung und versuchter Vernichtung, mit den totalitären Ideologien beschäftigt hat, war der Nobelpreis nicht nur die Anerkennung der großen Literatur eines kleinen Volkes, sondern auch eine Ohrfeige für die Antisemiten.

Was nämlich Kertész (freilich nicht nur er) über die fehlende Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit Ungarns sagt, stimmt leider, wie auch sein Befund, dass die Lage sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert habe.

Jüngste Umfragen, veröffentlicht von der Soziologin Maria Vasarhelyi, enthüllen, dass zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung meinen, dass die Juden in der Geschäftswelt in Ungarn zu mächtig seien, sieben Prozent mehr als vor zwei Jahren. Bei der jungen Generation (zwischen 18 und 30 Jahren) beträgt dieser Prozentsatz "nur" 52 Prozent. Rund 40 Prozent der Erwachsenen glauben , dass den in Ungarn lebenden Juden die Interessen Israels wichtiger seien als jene ihres Heimatstaates; bei den Jungen fällt dieser Anteil auf 27 Prozent.

Trotzdem findet die Soziologin die Infizierung der jungen Generation durch antisemitische Vorurteile bedenklich. Offene Ausgrenzung der Juden vertreten 30 Prozent und verschiedene antisemitische Stereotypen 29 Prozent der befragten Jugendlichen.

Der außerordentlich hohe Prozentsatz der "ich weiß nicht" Antworten spiegelt nur die Tendenz zum Verbergen der Vorurteile. Wenn man auch die noch viel virulentere roma-feindlichen Meinungen in Betracht zieht, ist die Schlussfolgerung beklemmend: Nur jeder zehnte junge Ungar sei offen und tolerant; etwa 20 Prozent, wenn auch nicht vorurteilsfrei, identifizieren sich nicht mit offen rassistischen Meinungen.

Diese Zahlen bilden den Hintergrund zur besorgniserregenden Radikalisierung der politischen Atmosphäre in Ungarn. Zu der Serie von blutigen Anschlägen gegen Roma, zu dem Vormarsch der rechtsradikalen "Jobbik" Partei (15 Prozent bei den Europawahlen) und (trotz Verbot) zu den Aufmärschen ihrer paramilitärischen Ungarischen Garde in an die Nazi Zeit erinnernden Uniformen.

Die regierenden und zerstrittenen Sozialisten, die für die trostlose Wirtschaftslage in erster Linie verantwortlich sind, befinden sich vor den im April 2010 anstehenden Parlamentswahlen im freien Fall. Ihre Verbündeten, die linksliberalen Freien Demokraten (SzDSz), sind als politische Gruppe praktisch nicht existent.

Die einzige intakte politische Kraft ist die von dem ehemaligen Premierminister Viktor Orban geführte rechtskonservative national betonte Allianz, die Fidesz. Sie dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit die absolute, möglicherweise sogar die Zweidrittelmehrheit erringen. Mit dem sicheren Sieg in Reichweite verhält sich die Orban-Partei äußerst vorsichtig. Sie distanziert sich nicht offen von der berüchtigten Garde, noch von den extremen Thesen der Rechtsradikalen, weil sie die rechten Randgruppen nicht an die "Jobbik"-Partei verlieren will.

In einem bemerkenswerten Aufsatz betont der bedeutende ungarische Schriftsteller Ivan Sandor die Gefahr der verspäteten Distanzierung der Rechten von den Rechtsradikalen: Statt der "verschönten Scheinvergangenheit" müsse man deutlich aussprechen, dass vom Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und nach dem schrecklichen Zwischenspiel der kurzweiligen "Räterepublik" 1919 mit rotem und anschließendem weißem Terror alle rechtsgerichteten ungarischen Regierungen den Weg zum verhängnisvollen Bündnis mit Hitler-Deutschland und damit auch zum ungarischen Holocaust geebnet haben.

Tragödie des Judentums ist Tragödie des Ungartums

Der ungarische Historiker György Ranki hat darauf hingewiesen, dass sich die Juden nirgendwo in Osteuropa mehr mit einer Nation identifiziert haben als in Ungarn. Deshalb war die Tragödie des Judentums auch eine Tragödie des Ungartums.

Drei Judengesetze(1938-1941) zerstörten die Existenz von Hunderttausenden Menschen, und nach dem Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 lief die "Endlösung" auf Hochtouren. Unter Aufsicht Adolf Eichmanns und seiner Schergen hat die ungarische Polizei in knapp sieben Wochen 437.402 Juden in 147 Zügen nach Auschwitz deportiert. Insgesamt 564.000 ungarische Juden wurden, zum Teil auf den Straßen von Budapest, umgebracht. Heute leben schätzungsweise nur noch 80.000 bis 100.000 Juden in Ungarn, überwiegend in Budapest.

Wie ist es dann möglich, dass in der Generation von 18 bis 30 Jahre nur vier Prozent wissen, was das Wort Holocaust bedeutet? Nur 13 Prozent können die Zahl der Opfer bemessen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass in dem heuer zum Abitur vorgeschriebenen "Historischen Atlas" die Schüler kein einziges Wort über die Judengesetze, den Holocaust und die Deportationen fanden.

Zugleich erscheinen jene Bücher ungehindert weiter, die 1944 den Hass gegen die Juden propagierten. Polizisten, die gegen verbotene rechtsradikale Demonstrationen auftreten, werden als "dreckige Juden" beschimpft. Eine Europaabgeordnete der rechtsradikalen "Jobbik"-Partei behauptet, dass die Juden, die weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, Ungarn besetzten. Ungarn müsse daher vor dem Schicksal Palästinas gerettet werden.

"Jüdisches Großkapital"

Kürzlich wurde bekannt, dass der Fidesz-Abgeordnete und Bürgermeister der Stadt Edeleny, Oszkar Molnar, in Reden und Interviews behauptet hatte, dass das "jüdische Großkapital die ganze Welt und auch Ungarn übernehmen möchte, dass eine große jüdische Einwanderung zu erwarten sei und viele Kinder in Jerusalem deshalb bereits ungarisch lernen".

Er sagte auch, dass schwangere Roma-Frauen mit dem Gummihammer auf ihren Bauch schlügen und Medikamente einnehmen würden, um kranke Kinder zur Welt zu bringen und dadurch doppelte Kinderbeihilfe zu ergattern. Molnars Parteichef Viktor Orban fand solche Bemerkungen zwar "peinlich", lehnte aber die Forderung nach einem Ausschluss des Bürgermeisters aus der Fidesz-Fraktion ab.

Dieser Tage rief das Wochenblatt "Magyar Demokrata" (Ungarischer Demokrat) zur "Errichtung einer Kulturpolizei auf, bestehend aus drei- bis vierköpfigen Sonderkommandos auf". Diese sollen die Bücher "linksliberaler Landesverräter" (György Spiro, György Konrad, Peter Esterhazy und Peter Nadas) aus den Bibliotheken entwenden und, wenn dies nicht möglich ist, die Blätter zumindest beschmieren und zerreißen.

"Wir sollten keine moralischen Hemmungen haben. Diese Leute sind Mörder, ihre Gifte sind aus unserem Organismus auszurotten", forderte der Redakteur des Blattes und rief "zum Kampf, zum heiligen Krieg" auf. Angesichts der Empörung in und außerhalb Ungarns versuchte der Chefredakteur die beispiellosen Angriffe gegen die herausragenden und - mit der Ausnahme Esterhazys - jüdischen Autoren als eine "witzige Betrachtung" hinzustellen.

All das - von den antisemitischen Sprechchören und Transparenten ("Holocaust ist eine Lüge") bei Fußballspielen bis zu den rassistischen, juden- und roma-feindlichen Ausbrüchen in Tageszeitungen, TV- und Radiosendern - mag nur die Spitze des Eisbergs sein. Mit den Worten György Konrads: "Die Freiheit erscheint als die Freiheit des Neofaschismus." Die Juden in Ungarn haben (wieder) Angst. Wer kann es ihnen verdenken?

Der aus Ungarn stammende und in Österreich lebende Publizist Paul Lendvai ist Herausgeber der "Europäischen Rundschau" und einer der großen Osteuropaexperten im deutschsprachigen Raum. Seine Bücher über die "Ungarn" und den "Ungarnaufstand" sind Standardwerke und noch immer erhältlich.

Quelle: URL: http://www.welt.de/kultur/article5240553/In-Ungarn-muessen-sich-Juden-wieder-fuerchten.html

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