Samstag, 27. Februar 2010

Sinti und Roma - Eine Zigeuner-Rhapsodie

Rund fünf Millionen Roma leben in der EU - meist am unteren Rand der Gesellschaft. Trotz aller Förderprogramme hat sich ihre Lage kaum gebessert.
VON HELMUT HÖGE


Roma-Junge auf einem Zeltplatz in der Nähe von Bukarest. Foto: dpa

In der autobiografischen Erzählung "Als ich noch Zigeuner war" schreibt der 1973 geborene Autor Tamas Jonas über seine Kindheit im sozialistischen Ungarn: "Damals spürte ich schon: es gibt irgendein großes Problem mit dem Sein. Das weiß ich auch heute noch. Aber heute weiß ich mehr: dieses Problem kann nicht gelöst werden."

Zwischendurch - in der Wende - sah es jedoch für kurze Zeit so aus, als wäre für die in Mitteleuropa lebenden Zigeuner mindestens eine Verbesserung möglich. Zwar zersetzte sich ab 1990 die Gleichheit unter den Roma - viele verarmten völlig und einige wenige wurden reich, aber gleichzeitig organisierten sie sich immer effektiver - nicht nur national, sondern auch international: in der "Romani Union". Eine solche entstand erstmalig bereits im Zusammenhang mit dem Prager Frühling 1969. Sie wurde jedoch 1973 verboten. Zuvor fand 1971 in London der 1. Roma-Weltkongress statt. Nach 1989 gründeten Dr. Emil Scuka und Jan Rusenko die erste politische Romapartei in der Tschechoslowakei: Bürgerinitiative der Roma (ROI) genannt, die im ersten nachkommunistischen Parlament elf Abgeordnete stellte. Außerdem wurden in den darauf folgenden zwei Jahren über 100 Romani-Bücher publiziert - mehr als in den ganzen 800 Jahren davor, seitdem Roma in der Region leben, die seit 1918 Tschechoslowakei heißt. Daneben entstanden eigene Roma-Zeitungen und -Magazine. Aus der ROI ging dann die IRU, die Internationale Romani Union, hervor.

Die Blüte der Romakultur währte jedoch nicht lange, denn gleichzeitig organisierten sich auch immer mehr rechtsradikale Skinheads gegen die Roma. Sie töteten bis heute etwa 50 von ihnen. Zuletzt starb ein Rom 2004 bei einer Hungerrevolte in der Ostslowakei, wahrscheinlich durch Polizistenhand. Die zunehmende Gewalt hat in den letzten Jahren bereits viele Roma in die Emigration getrieben: u. a. die Schriftsteller Margita Reiznerova und Frantisek Demeter nach Belgien und Malvina Lolova nach Australien. Derzeit leben etwa 300.000 Roma in Tschechien, das sind 3 Prozent der Bevölkerung. Umgekehrt gibt es eine zunehmende Zahl von Roma, die aus der Slowakei, wo rund 400.000 Roma leben, nach Tschechien emigrieren, weil sie in der Slowakei anscheinend noch mehr diskriminiert werden und die Arbeitslosenquote unter ihnen über 90 Prozent beträgt. Allein 2003 stellten über 1.000 slowakische Roma einen Asylantrag in Tschechien, wo man offiziell von inzwischen 15.000 "Übersiedlern" ausgeht. "Manchmal verschleißen die Sehnsüchte der Menschen wie alte Kleider. Auch die schönsten, feinsten zerfallen, in diesen Momenten spürt man immer, dass es nicht schön ist, zu leben", schreibt Tamas Jonas.

All dies ist auch den Dokumenten und Exponaten des 2006 eröffneten Roma-Museums im mährischen Brno zu entnehmen, das in der Bratislavska-Straße domiziliert ist, inmitten eines zumeist von Roma bewohnten Stadtviertels mit der entsprechenden "Hyperghetto"-Infrastruktur, die vor allem aus Pfandhäusern, Bordellen, Spielhallen, Nachtbars, einem Stützpunkt der Heilsarmee, mehr oder weniger verfallenden Sozialwohnungen und einer städtischen Berufsberatung für Mädchen besteht. 2004 hatte amnesty international kritisiert, dass der tschechische Staat keine Ausbildungsförderung für junge Roma in seinem Etat vorsehe (Romakinder besuchen in der Mehrzahl Sonderschulen).

Nach einem Besuch des Roma-Museums im mährischen Brno fragte ich die Leiterin Frau Dr. Horvathova, ob ihre Einrichtung mit dem Roma-Museum in Jerusalem kooperiere und was sie von den Roma-Museen in Holland, in der Ukraine und in Wien halte, die demnächst eröffnet werden sollen. Sie teilte mir mit, mit den Roma-Museen überall auf der Welt in Verbindung zu stehen und dass sie die Gründung weiterer Museen begrüße. "Die Reichweite der Arbeit unseres Museums in Brno ist noch nicht so groß, wie wir es uns wünschen, nichtsdestotrotz kann es als Aufklärung wirken, und zwar langfristig. Aber natürlich müssen die Leute zuerst eine Arbeit haben, eine gesicherte Existenz, und erst dann werden sie sich für die Kultur interessieren, das gilt auch für die Roma." Damit sieht es allerdings immer schlechter aus.


Lärmschutzwand gegen Roma: "Die Zigeuner arbeiten nicht und feiern die ganze Nacht". Foto: dpa

Frau Dr. Horvathova hatte ihr Museumskonzept bereits im Herbst 2004 auf einem Symposium der EU über "Roma und Sinti im Europäisierungsprozess" vorgestellt. Diese Veranstaltung mit zig Künstlern und Referenten, die in Berlin stattfand, war die erste nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder. Wenig später verpflichteten sich Bulgarien, Mazedonien, Montenegro, die Slowakei, Serbien, Rumänien, Ungarn und Tschechien, ihre Roma-Minderheiten besser zu integrieren - vor allem ihre Ausbildungs- und damit Berufschancen zu erhöhen. Weltbank, EU und Soros-Stiftung legten dazu einen "Roma-Erziehungsfonds" (REF) in Höhe von 42 Millionen Euro auf. Zuvor - 2003 - hatte jedoch die Slowakei, wo besonders viele Sinti leben, bei ihrem EU-Beitritt "die strikte Anweisung aus Brüssel erhalten, dafür Sorge zu tragen, dass das slowakische Problem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen, der einer der wichtigsten Gründe war, dass sich die EU überhaupt formierte, sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten", empörte sich der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß in seinem Buch "Die Hundeesser von Svinia".

Zuvor war es in der nahen Kreisstadt Trebisov bereits zu einem regelrechten Hungeraufstand der dort in sogenannten Elends-"Osadi" konzentrierten Zigeuner gekommen, nachdem die rechtsnationale Regierung ihnen die Sozialhilfe um die Hälfte gekürzt hatte (115 Euro bekommt dort seitdem eine achtköpfige Familie im Monat). Um die Wohlfahrtsempfänger "zur Arbeitssuche zu motivieren", wie es offiziell hieß. Im Osten der Slowakei gibt es rund 700 solcher "Osadi", die man ebenfalls gerne einmauern würde, wäre da nicht die EU mit ihren Menschenrechtsparagrafen sowie die sich organisierenden und sich wehrenden Roma selbst, die, wie ein Sprecher des tschechischen Romasenders "Rota" meinte, "einen regelrechten Krieg mit der Regierung und dem Staat führen".

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man sie zunächst in den ehemals von Sudentendeutschen bewohnten böhmischen und mährischen Grenzgebieten zwangsangesiedelt. Das betraf Sinti und Roma aus der Slowakei, Rumänien und Ungarn. Zudem wurden Frauen mit vielen Kindern von den Sozialämtern gedrängt, sich sterilisieren zu lassen (auch aus der Zeit nach 1991 sind noch 31 solcher Fälle bekannt geworden; auf Vorschlag der tschechischen Ombudsstelle für Roma will man sie demnächst entschädigen). Nachdem sich 1993 die Slowakei von Tschechien abgetrennt hatte, sollten alle Zigeuner, die einen slowakischen Pass besaßen, das Land verlassen, die Slowakei verlangte jedoch, dass Tschechien ihnen einen Teil der davon Betroffenen abnehme. Es kam zu einem üblen Hin und Her, das noch dadurch verschärft wurde, dass an den Grenzübergängen nach Bayern und Sachsen immer mehr arbeitslos gewordene Romafrauen und -mädchen der Prostitution nachgingen - bis heute.

In der grenznahen westböhmischen Industriestadt Usti nad Labem (Aussig) versuchte man 1999, einige Sozialwohnungen, in denen Roma lebten, mit einer langen, 1,80 Meter hohen Mauer von den besser gestellten Anwohnern der Maticni-Straße abzugrenzen. Noch jetzt sagen viele Bewohner der Stadt: "Es sollte doch nur eine Lärmschutzwand sein. Die Zigeuner arbeiten nicht und feiern die ganze Nacht, während wir jeden Morgen früh rausmüssen." Zuerst demonstrierten die tschechischen Roma dagegen, dann kam es auch zu Protesten im Ausland. Tschechiens Außenminister Jan Kavan meinte daraufhin: "Diese Mauer ist eine Wand zwischen uns und der Europäischen Union." Staatspräsident Václav Havel setzte schließlich durch, dass sie wieder abgerissen wurde. Aber die Segregationstendenzen und den wieder zunehmenden Rassismus hielt er damit nicht auf.

Bereits fünf Jahre nach der "samtenen Revolution" schätzte der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal die Entwicklung seines Landes in jeder Hinsicht äußerst pessimistisch ein. Unter anderem in einem Brief an seinen langjährigen Freund Arnost Lustig, der als Judaistikprofessor in den USA im Exil geblieben war und wissen wollte, was denn nun - nach dem Zusammenbruch des Sozialismus - in seiner alten Heimat geschehe: "Es ist nicht gerade lustig in Böhmen. Wir sind an einem toten Punkt angelangt", teilte ihm Hrabal laut seiner Biografin Monika Zgustova mit. "Woher wissen Sie das?", fragte Lustig zurück. "Von dem Gesindel, mit dem ich verkehre. Das ist mein Barometer", erklärte ihm Hrabal.

In ihren für die Europäische Union 2002 zusammengestellten "Kapiteln aus der Geschichte der Roma" lässt ihn die Autorin Dr. Jana Horvathova am Schluss zu Wort kommen. Es handelt sich dabei um einen Abschnitt aus Hrabals letztem 1991 geschriebenen Werk "Zigeunerrhapsodie", das ein Loblied auf die klassische Romamusik enthält. Auch in vielen anderen Werken von Hrabal kommen Zigeuner vor, deren minoritäre Lebensweise ihm nicht nur die eher kleinbürgerlichen Neigungen der Mehrheit der tschechischen Bevölkerung so "schön" kontrastierte. Als ehemaligem Hilfsarbeiter und Bohemien - ein Wort, das sich von "Zigeuner" herleitet - standen ihm auch die Ersteren näher.

Frau Dr. Horvathovas kurze "Geschichte der Roma" fungiert inzwischen als der erste Katalog des von ihr gegründeten Roma-Museums. Ihr Vater, Ing. Holomek, hatte zuvor bereits die inzwischen größte tschechische Roma-Organisation - "Die Gemeinschaft der Roma in Mähren" - gegründet, deren Vorsitzender er noch immer ist. Das Museum stützt sich u. a. auf Leihgaben des von Adam Bartosz im polnischen Tarnow gegründeten "Ethnografischen Museums" und der slowakischen Gemer-Malohontske-Sammlung von Roma-Exponaten in Rimavska-Sobota.

In der Tschechoslowakei wurde 1958 und in Polen 1964 ein Gesetz zur Sesshaftmachung aller Nomaden verabschiedet. Das galt in etwa für den gesamten Ostblock. Ein Nachbar in der ungarischen "Zigeunersiedlung", wo Tamas Jonas aufwuchs, meinte dazu rückblickend: "Ich hab immer schöne Erfolge gehabt. Aber dann haben sie sich in mein Leben eingemischt, darum hab ich nicht weiterkönnen, bis nach Miskolc bin ich gekommen, aber weiter nicht." Gleichzeitig bekamen die Roma Arbeitsplätze in der Industrie zugewiesen. Da es sich dabei zumeist um Hilfsarbeiten handelte, gehörten sie nach Auflösung des Sozialismus zu den Ersten, die arbeitslos wurden. In der Zwischenzeit waren jedoch auch ihre früheren Handwerke - wie Scherenschleifen, Schmieden und Kesselflicken - überflüssig geworden. Ähnliches galt für ihren alten Handelsobjekte - Pferde und Teppiche etwa.

Nur die Prostitution und die Musik blühten wieder auf. Bei Letzterer unterscheidet man heute zwischen traditioneller - "phurikane" - und moderner Musik - "rom-pop" genannt. Derzeit leben rund fünf Millionen Roma in der Europäischen Union, das sind zwei Prozent ihrer Bevölkerung, die meisten am unteren Rand der Gesellschaft und am äußersten Rand der Städte bzw. Dörfer. Die Mutter von Tamas Jonas musste immer wieder um Geld betteln: "Mutti konnte vieles ertragen. Sie wurde verjagt, ihr wurden Obszönitäten an den Kopf geworfen, vom 'Parasiten' bis zum 'dreckigen Zigeuner'." Über seinen Vater schreibt Jonas: "Er tat recht daran, niemals bauen zu wollen, auch nicht im übertragenen Sinne, er trieb nur Raubbau, beraubte alle. Uns, unsere Mutter, sich selbst, den Alkohol, seinen Körper. Etwas anderes kann man ohnehin nicht machen. Wer plant, der scheitert. Wer sorgsam ist, wird unglücklich."

Sogar die sorgsamen Zigeuner-"Experten" des oben erwähnten europäischen "Roma-Erziehungsfonds" (REF) sind - nach gut zweijähriger Tätigkeit - unglücklich: die Roma-Gemeinden würden weiterhin benachteiligt und die Roma-Kinder immer noch gerne als "geistig und körperlich zurückgeblieben" in Sonderschulen gesteckt, die Regierungen hätten zwar umfassende Aktionspläne vorgelegt. An deren Verwirklichung hapere es jedoch. Vor allem fehle allgemein "die Erkenntnis, dass die ungarische Gesellschaft es sich nicht leisten kann, bis zu zehn Prozent ihrer Bevölkerung links liegen zu lassen".

Ganz ähnlich sieht es in Bulgarien aus, wo es Mitte August 2007 zu einer kleinen Roma-Revolte in Sofia kam, die sich gegen Skinheads richtete. Von den dortigen 650.000 Roma sind sieben Prozent arbeitslos, zwei Drittel müssen von weniger als 100 Lewa (50 Euro) im Monat leben und 68 Prozent haben keinen Schulabschluss. Die bulgarischen Roma leben faktisch in einer "Parallelwelt". Auch hier wurden auf Druck der EU einige "Integrationsprojekte" eingerichtet. Dagegen gründete sich in mehreren Städten eine an der Hitler-Jugend orientierte rechte "Freiwilligen-Garde".

In Deutschland, das sich mit zwei Millionen Euro am REF beteiligt hat, leben mehr als 600.000 Sinti, um deren Schulbildung und Fortkommen es ebenfalls nicht zum Besten bestellt ist. In Osteuropa gebe es inzwischen sogar mehr gut ausgebildete Roma als in Deutschland, meint ein Vertreter der deutschen Freudenberg-Stiftung, die sich seit Jahren um die Integration der Roma und Sinti bemüht. Weil dem "Roma-Erziehungsfonds" langsam das Geld ausgeht, will Deutschland seinen Beitrag 2008 eventuell aufstocken. Die REF-Experten haben unterdes aber auch noch andere Finanzierungshebel gefunden. Sie beteiligen sich an einem Roma-Musikverlagsprogramm, mit dem bisher ungefähr 1,5 Millionen CDs verkauft werden konnten. In der Musikbranche hat die "Eth-Nische" gerade Konjunktur. Es bleibt also - wohl oder übel - dabei: "Tanz, Zigan, tanz!"

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Quelle: http://www.taz.de/1/leben/alltag/artikel/1/eine-zigeuner-rhapsodie/?src=SE&cHash=3e0d55d18b 27. Feber 2010

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