Sonntag, 12. Juli 2009

Zigeuner, das Wort heißt zuerst "Mensch"

Beim Zigeunerpfarrer von Alsószentmárton

"Ich bin Zigeuner unter Priestern und Priester unter Zigeunern", mit diesen Worten umschreibt Pfarrer József Lankó seine Situation. Seit acht Jahren lebt er in der kleinen ungarischen Gemeinde Alsószentmárton als Seelsorger mitten unter den Zigeunern. Alsószentmárton - kurz vor der Grenze zum heutigen Kroatien gelegen - ist ein Ort, der den dort beheimateten Menschen keine wirtschaftliche Zukunftsperspektive geben kann. Heute liegt die örtliche Arbeitslosenquote bei etwa 90 Prozent. Diese, in den vergangenen Jahren rapid gestiegene Chancenlosigkeit ließ schon vor Jahren den einstigen Bewohnern - Kroaten, Donauschwaben, Ungarn - nur eine Alternative, den Wegzug in die Städte Siklos oder Pecs. Nur die Zigeuner blieben, Alsószentmárton ist heute ihr Dorf. Pfarrer József Lankó erklärt, daß sie im Durchschnitt zehn Jahre im Ort leben, bevor sie weiterziehen

Draußen vor dem Alsószentmártoner Pfarrhaus herrscht bis in den Abend hinein Leben. Zumeist sind es Kinder, die sich um das Pfarrhaus herum treffen. Kommen Besucher, so sind sie eine willkommene Abwechslung, sie werden neugierig umringt und abgeschätzt. In einem Sandkasten an der Kirche spielen zwei Kinder. Ihre Eltern gehören zu einer Gruppe anonymer Alkoholiker, die sich im Gruppenraum der Gemeinde treffen. Es wird gesungen, gemeinsam über Probleme des Alltags und über die Bewältigung der Alkohol-Krankheit gesprochen... Soziale Ausgrenzung und Alkoholismus gehen auch in Ungarn oft Hand in Hand

Immer wieder ist zu hören, daß die Zigeuner die ärmste Bevölkerungsgruppe im heutigen Ungarn sind. Eine Einschätzung, die auch der zuständige Diözesan-Caritasdirektor von Pecs, János Szalay, teilt. Die Zigeuner hatten am meisten unter den gesellschaftlichen Umbrüchen der vergangenen Jahre zu leiden, erklärt Janós Szalay. Was nicht heißt, daß es den Ungarn heute gut geht. Gerade im südungarischen Raum gibt es große Armut. Besonders ältere Menschen leben mit ihrer kargen Rente oft am Rand des Existenzminimums. Laut persönlicher Einschätzung von Janós Szalay liegt die Arbeitslosigkeit im Land bei durchschnittlich 13 bis 14 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, daß Ungarn nach 1989 auf keinerlei soziale Absicherungssysteme zurückgreifen konnte, wie sie etwa in Deutschland bestehen. Eine schlagartige Verelendung weiter Kreise der Bevölkerung war nicht aufzuhalten

In Pecs engagiert sich die Caritas heute in vielfältiger Weise gegen die alltägliche Not. Was ebenfalls nicht einfach ist. Janóz Szalay: "Wir werden vom Staat nicht unterstützt, es ist einfach anders als in Deutschland, wo die Caritas auch von staatlicher Seite ein gesuchter und gefragter Ansprechpartner ist." Die sozialdemokratisch-liberale Regierung zeichne sich statt dessen durch eine kirchenfeindliche Politik aus, die keinerlei Verbindung zu kirchlichen Organisationen suche. Dennoch gelingt es der Diözesancaritas Pecs heute, beachtliche Hilfe für Obdachlose, sehr arme Leute, kinderreiche Familien und Flüchtlinge zu leisten. Speziell für Zigeuner lief kürzlich eine Ausbildung für 23 Jugendliche. In ihren Pfarrgemeinden sollen sie einmal als eine Art Sozialarbeiter tätig werden. Sie erfahren alles, was sie brauchen, um in konkreten Alltagssituationen reagieren zu können

Hilfe, die auch Pfarrer József Lankó, eine Katechetin und zwei Zivildienstleistende in Alsószentmárton Tag für Tag leisten. Sie reicht von der Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen, der Stiftung Collegium Martineum für junge Zigeuner, die das Gymnasium besuchen bis hin zum Organisieren einer Küche, in der täglich rund 50 warme Mahlzeiten ausgegeben werden. Dazu kommen die traditionellen sonstigen Aufgaben eines Ortspfarrers

Doch für den Seelsorger József Lankó steht immer der ganze Mensch im Mittelpunkt seines Engagements, und das bedeutet eben nicht nur die Sorge um die Seele. "Wenn die Kinder Hunger haben oder sie brauchen Schuhe, dann muß ich helfen." Daß dies oft bis in die Nacht gehen kann, ist nicht zu vermeiden. Einmal mußte József Lankó eine schwangere Frau im Eiltempo ins Krankenhaus fahren, sie stand kurz vor der Entbindung. "Ich hatte Angst, daß sie es nicht aushält, wußte ich doch gar nicht, was in einem solchen Moment zu tun ist", berichtet der Seelsorger. Lachend fügt er hinzu: "Das habe ich in der Theologie nicht gelernt." Und was er auch nicht lernte, war die Antwort auf die Frage, was ist, wenn der Priester plötzlich eine Familie übernehmen muß

Und genau diese stand für ihn in Alsószentmárton. József Lankó: "Ich habe oft gegen Abtreibung gesprochen und plötzlich blieb ein Mädchen allein zurück im Krankenhaus Siklos, die Eltern wollten es nicht haben. Dann habe ich gedacht, als Priester kann ich leicht gegen Abtreibung reden. Was sollte ich machen, ich nahm die Kleine zu mir." Später kamen zwei Zigeuner-Mädchen aus Jugoslawien dazu, die inzwischen zu ihren Familien zurückkehren konnten. Derzeit leben mit Pfarrer József Lankó und seinem Mädchen noch zwei Jungen im Alsószentmártoner Pfarrhaus. Der eine absolviert eine Lehre zum Maschinenschlosser, der andere sollte aus einem Heim in Pecs geworfen werden, bis ihn der Alsószentmártoner Pfarrer zu sich nahm. "Der Junge hat viel im Kopf und ein gutes Herz, er brauchte einfach eine Familienatmosphäre", betont József Lankó. Inzwischen besucht sein Pflegesohn das Gymnasium in Pecs.

Das Zusammenleben im Dorf vergleicht József Lankó immer wieder mit einer großen Familie. Es hat zwar eine Weile gedauert, bis er von den Bewohnern akzeptiert wurde, doch jetzt gehört er dazu. "Zuerst kamen die Kinder und über sie kamen dann ihre Eltern." Bleibt die Frage was ist, wenn es einmal zu Problemen kommt. József Lankó lächelt: "Wie regiert man, wenn die Kinder Blödsinn machen...?" Und das hin und wieder etwas verschwindet gehört zum Alltag in einem Zigeunerdorf dazu. Nach dem Denken der Zigeuner leben alle Menschen im Grunde in einer Familie, berichtet József Lankó und wenn einer etwas braucht, dann nimmt er es sich. Beispielsweise die Jacke aus dem Schrank, wenn er friert. Einmal, so erzählt der Zigeunerpfarrer, war sein ganzes Zimmer ausgeräumt. Wenige Tage später wurde jedoch alles zurückgebracht

Die Bezeichnung Zigeuner - so Pfarrer József Lankó - heißt Mensch, und Gott hat den Menschen nach seinem Abbild erschaffen, Zigeuner sollten als solche gesehen und behandelt werden, "sie sind auch Abbild Gottes." "Vorurteile und allgemeine Meinungen sind falsch, auch hier leben Menschen wie überall mit Fehlern und Schwächen.

Neben den sozialen Erfahrungen brachte das Leben mit den Zigeunern für József Lankó auch zahlreiche persönliche Bereicherungen mit sich. "Ich mußte neu nachdenken, was das Evangelium für uns und für die Kirche bedeutet, mußte nachdenken, wie es für die Zigeuner verstehbar wird", sagt Pfarrer Lankó. Dabei machte er die Erfahrung, daß die Zigeuner eine sehr tiefe Beziehung zu Gott haben, auch wenn sie manchmal nicht mit dem christlichen Bild übereinstimmt. József Lankó: "Für die Zigeuner ist Gott der da oben, einer der alles sieht und weiß, einer der das Leben koordiniert." Manchmal paßt dieses Bild zur Bibel. Daß Gott aber Vater ist, für die Menschen Gutes tut, dieses Bild muß oft noch vermittelt werden, betont József Lanko und ergänzt: "Das verstehen sie nur, wenn es ihnen vorgelebt wird. Wenn ich einmal etwas mache, was nicht gut ist, dann kommt gleich ihre Frage: Was für ein Priester bist du, wo ist dein Gott?

József Lanko kann es sich nicht mehr vorstellen, Alsószentmárton zu verlassen. Nüchtern sagt er: "Das geht gar nicht". Zahlreiche Kontakte wurden in den vergangenen Jahren aufgebaut. Auch nach Deutschland, beispielsweise zum Zigeunerseelsorger des Bistums Paderborn, Ulrich Weiß, und zur Pfarrgemeinde St. Pius in Witten, die die Menschen in Alsószentmárton unterstützen. Jetzt kommen Kontakte zur Gemeinde Leipzig-Lindenau hinzu, wo Kaplan Thomas Bohne aus Anlaß seines 40. Geburtstages im Mai für eine neue Gemeinschafts-Küche in Alsószentmárton sammeln will. József Lankó und seine Zigeuner sind dankbar für jede Hilfe. Doch der Pfarrer begreift sie nicht als Almosen: "Jede Hilfe hat Sinn, wenn sie persönlich ist. Wir alle sind Schwestern und Brüder und gehören zusammen, egal wo oder wie wir leben. Das verstehe ich unter Katholizität.

Holger Jakobi

Quelle: http://www.tag-des-herrn.de/artikel/3790.php

Abgesehen vom katholischen Gewäsch, ein kleiner, eindringlicher Einblick ins ungarische Zigeunerleben.

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